Bundesverdienstkreuz für Argyris Sfountouris: Begründung von Reinhard Schabbon August 2021

Argyris Sfountouris (AS) überlebte als knapp Vierjähriger das berüchtigte Massaker von Distomo am 10. Juni 1944. Seine weitere Kindheit und Jugend verbrachte der Vollwaise im Pestalozzi-Kinderdorf in Trogen. Dort machte er das Abitur und studierte an der ETH in Zürich Mathematik und Physik und wurde Lehrer. Inzwischen besitzt er neben der griechischen auch die schweizerische Staatsbürgerschaft.
Seit der Obristendiktatur in Griechenland, die er von Zürich aus mit unterschiedlichen Aktivitäten und prominenten Unterstützern bekämpfte, gilt er als Mittler zwischen griechischer und deutschsprachiger Kultur, insbesondere durch seine Übersetzungen der verbotenen Werke – vorzugsweise Lyrik – der damals in Griechenland inhaftierten Künstler.

Nach der deutschen Wiedervereinigung versuchte AS, mit offiziellen deutschen Stellen ins Gespräch zu kommen über die von ihm in Anlehnung an den Begriff „Auschwitz-Lüge“ so genannte „Distomo-Lüge“. (Zu diesem Begriff weiter unten.) Nach vielen vergeblichen Versuchen sah er keine andere Möglichkeit, als dieses Gespräch auf juristischem Wege zu erzwingen: durch eine Schadenersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland. In der dritten Instanz wurde mit dem Urteil des BGH vom 26. Juni 2003 sein Ziel erreicht. Die Richter hatten während des Prozesses und sogar in der Urteilsbegründung das Massaker von Distomo als eines der abscheulichsten Kriegsverbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Das war das Ende der „Distomo-Lüge“, von „Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung“ konnte offiziell nicht mehr gesprochen werden.
(Unter der Distomo-Lüge verstand AS die Leugnung des Massakers von Distomo – und damit vieler solcher Massaker in Griechenland unter deutscher Besatzung – als Kriegsverbrechen. In einem Schreiben der Deutschen Botschaft Athen vom 23. Januar 1995 an AS hieß es dazu: „…Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren (…) sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung, ….“. Das bestialische Abschlachten – diese Wortwahl ist durchaus zutreffend – von Babys, Kindern Frauen (auch sichtbar schwangeren), Greisinnen und Greisen wurde vom auswärtigen Amt als Maßname im Rahmen der Kriegsführung bezeichnet! Damit wollte sich AS nicht abfinden.

Das Urteil des BGH bildete die Voraussetzung dafür, dass deutsche Bundespräsidenten bei Staatsbesuchen in Griechenland seitdem immer auch Stätten von entsprechenden Kriegsverbrechen besuchten, ihre Scham zum Ausdruck brachten und im Namen Deutschlands um Entschuldigung baten.

Bei der Vorstellung der griechischen Übersetzung der von Patric Seibel geschriebenen Biografie über AS sagte der damalige Botschafter Plöttner am 31. Mai 2018 in Athen: „Das bewusste Erinnern an die deutschen Verbrechen in Griechenland hat in meinem Land spät, zu spät eingesetzt. Manch‘ offizielle Korrespondenz aus den letzten Jahrzehnten – auch von der Deutschen Botschaft – ist in ihrem Duktus schwer zu ertragen. Dafür schäme ich mich und dafür möchte ich mich bei Ihnen, Herrn Sfountoris, heute entschuldigen.“ AS schrieb mir dazu: „Die Rede des Botschafters – eine wirklich neue Generation von Beamten des Auswärtigen Amtes – war für mich befreiend, eine schwere
Last fiel deutlich spürbar von mir, die mich seit Januar 1995 bedrückte. Seit jenem Brief der Botschaft – vom Auswärtigen Amt diktiert – der ein Kriegsverbrechen verneinte und von bloßen „Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung“ sprach“.

Dass Deutschland in über 70 Jahren allmählich lernte, mit diesen bitteren Wahrheiten umzugehen, dass eine Aussage wie die des Botschafters Plöttner möglich wurde, ist zu einem großen Teil AS´ Fähigkeit zur Metamorphose seines schweren Traumas in positives Handeln zu verdanken. Er schrieb Artikel für namhafte Zeitungen, trat als Zeitzeuge in Begründung Schulen auf, hielt Vorträge in Universitäten, auf Kongressen und bei politischen Veranstaltungen. Im Rahmenprogramm der sog. „Wehrmachtsausstellung“ hielt er 1996 dreimal einen Vortrag: „Die Morde von Distomo und die bundesdeutsche Diplomatie“. (Am 10. April in Essen, am 26. November in Nürnberg und am 2. Dezember in Regensburg.) Und das alles mit einer offensichtlich großen Sympathie für Deutschland, wenn auch nicht gerade für die deutsche Diplomatie. (Sein Buch, in dem er die wichtigsten seiner Reden und Vorträge veröffentlich hat, trägt bezeichnenderweise den Titel „Trauer um Deutschland“.)

In seinem 2016 erschienenen Buch „Schweigen ist meine Muttersprache – Griechenland – seine Dichter, seine Zeitgeschichte“ erfahren wir, dass er sein Überleben als Auftrag sieht, im Gegensatz zu den meisten Opfern, „die sich begreiflicherweise lieber verstecken, untertauchen, um sich vor den verächtlichen Blicken der Gesellschaft zu schützen, die ihnen nicht verzeihen will, ein Opfer zu sein.“ Der Herausgeber Gerhard Oberlin beschreibt das in seinem Geleit so: „Argyris´ unbeugsamer Wille, gegen innere Widerstände das
Werk der Versöhnung im Namen des Friedens und nicht zuletzt der Rehabilitation der deutschen Kultur voranzutreiben, wurde dann auch zur „Sendung“ dieses vorliegenden Buches“.

Am 25. Mai hat der italienische Militärstaatsanwalt Marco De Paolis das Bundesverdienst kreuz verliehen bekommen. Zwar kenne ich die Begründung nicht, vermute jedoch, dass das Auswärtige Amt und der Bundespräsident der Meinung waren, dass er sich mit der Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen in Italien und mit entsprechenden Prozessführungen, die auch zu Verurteilungen von Kriegsverbrechern geführt haben, um Deutschland verdient gemacht habe. Diese Auffassung findet meine uneingeschränkte Zustimmung. Der Fall Marco De Paolis hat mich auf die Idee gebracht, AS für die gleiche Auszeichnung vorzuschlagen. In meinen Augen hat sich AS in noch stärkerer Weise um Deutschland verdient gemacht.