Lesbos: Hoffnungslosigkeit als Programm – Verelendung nach Plan

Als ich im Dezember 2017 auf Lesbos im »Olive Grove«, dem wilden Camp neben dem »Hot Spot« Moria war, standen dort nur ein paar Zelte. Bei meinem Besuch Ende November 2019 fahre ich um die letzte Kurve und blicke schon jetzt – noch bevor der Zaun des Hots Spots zu sehen ist – auf ein Meer von Zeltplanen zwischen den Olivenbäumen: grau und weiß, wahlweise mit dem blauem UNHCR-Logo, dem griechischen Rote-Kreuz-Logo oder der EU-Flagge, unter der »European Union – Humanitarian Aid« zu lesen ist.

Während ich die enge, vom Regen aufgeweichte Gasse zwischen den zeltähnlichen Verschlägen entlanggehe, denke ich »Ja stimmt, die EU selbst benötigt jetzt dringend humanitäre Hilfe«, denn diese Aufschrift wirkt angesichts der zeltähnlichen Verschläge, der schlammigen Plastikplanen und vom Regen matschigen Gassen wie blanker Hohn. Hier, in diesem Camp an der EU-Außengrenze, das leider kein Ausnahmefall ist, zeigt sie ihr inhumanstes Gesicht, unsere Friedensnobelpreisträgerin von 2012. Es ist kaum acht Jahre her und schon treten Abnutzungserscheinungen bezüglich der Einhaltung der EU-Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention klar zu Tage. Genau an diesem Ort, gezielt und gewollt – weil dann vielleicht nicht mehr so viele von »denen« kommen. Sind ja schon genug – Mitte März 2020 müssen 19.272 Schutzsuchende1 in und neben dem Hot Spot auf Lesbos, der ursprünglich für 2.757 Menschen2 geplant war, leben. Insgesamt leben auf Lesvos im März 2020 21.402 Schutzsuchende3.

Einer von »denen« ist Pazhman4 aus Afghanistan, der mir im Matsch entgegenkommt. Auf dem Arm seine kleine Tochter, an der Hand seinen kleinen Sohn. Es hat aufgehört zu regnen und wir kommen schnell ins Gespräch. Er lädt mich auf einen Tee vor seinem Zelt ein. In fließendem Englisch erzählt er mir, dass er in Afghanistan im Rahmen der ISAF-Mission gearbeitet hat und die Taliban ihn und seine Familie deswegen bedrohen. Also Flucht aus Afghanistan, Warten in der Türkei, rein ins Boot und wieder Warten – diesmal zwar im erstmal sicheren Europa, aber dafür in totaler Ungewissheit. Er fragt mich: »Glaubst du, dass wir in die Türkei abgeschoben werden?« Ich kann nicht mehr antworten als: »Ich weiß es nicht«. Dann sagt er »Wir haben Angst, richtige Angst!«

Was unter der neuen griechischen Regierung und der neuen EU-Kommission in Brüssel in Sachen Migrationspolitik passieren wird, können selbst die Volunteers for Lesvos nicht abschätzen, die schon seit 2016 dabei sind.

Die Ankündigungen lassen nichts Gutes für die ostägäischen Inseln erwarten. Geplant sind geschlossene Camps – auf Lesbos irgendwo im Wald, dort wo im Sommer die höchste Waldbrandstufe ausgerufen wird, weit weg von der nächsten Stadt; schwimmende Zäune im Meer zur »Abwehr« von Schutzsuchenden; beschleunigte Asylverfahren und schnellere Abschiebungen im Rahmen der EU–Türkei-Erklärung.

»Beschleunigte Asylverfahren« mag zunächst positiv klingen, leider zeichnet sich aber ab, dass in der Praxis die Rechte der Asylsuchenden zunehmend verletzt werden. Interviewtermine werden so kurzfristig angesetzt oder verschoben, dass die Zeit fehlt, eine Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen. Oder, noch gravierender, die Betroffenen ihr Recht auf persönliche Anhörung erst gar nicht wahrnehmen können weil es, wie zum Beispiel im Fall von 28 Asylsuchenden aus afrikanischen Ländern, nach Angaben der für die Bearbeitung der Asylgesuche zuständigen Behörde auf Lesbos zu diesem Zeitpunkt keine Übersetzer*innen für Portugiesisch gibt5. Die Unterlassung der persönlichen Anhörung und der individuellen Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz stellt aber einen Verstoß gegen die Richtlinie 2013/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über gemeinsame Verfahren zur Gewährung und Aufhebung des internationalen Schutzes dar6.

Leider verschärft sich die Lage der Geflüchteten, die Griechenland erreichen, immer weiter: Seit Anfang März 2020 hat die griechische Regierung unter dem liberal-konservativen Premierminister Mitsotakis das Asylrecht vorübergehend für vier Wochen ausser Kraft gesetzt, da, so die offizielle Begründung, die Türkei die Geflüchteten nicht mehr an der Weiterreise nach Griechenland hindert. Den Schutzsuchenden, die nach dem 1.3.2020 in Griechenland ankommen, wird somit von der griechischen Regierung das Recht verweigert, einen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu können. Griechenland strebt die Abschiebung dieser Geflüchteten an, ohne ihnen die Möglichkeit einer Teilnahme am Asylverfahren zu geben.

Nach dem Besuch einer EU-Delegation mit der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen am 3.3.20 an der griechisch-türkischen Grenze am Fluss Evros, sagte die Europäische Union Griechenland 700 Millionen Euro für »Migrationsmanagement« und Grenzschutz zu – auch der Einsatz der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX in Griechenland soll verstärkt werden.

Ursula von der Leyen dankte Griechenland dafür, der »europäische Schild« zu sein. Weitere Maßnahmen, wie z.B. eine »Entlastung« der griechischen Inseln durch die Aufnahme von Schutzsuchenden von einer »Koalition der Willigen« wurden bis Mitte März von den dazu bereiten EU-Mitgliedsstatten nicht umgesetzt. Die EU-Institutionen halten auch in dieser für Griechenland sehr schwierigen Situation weiterhin an einem bisher und auch zukünftig nicht funktionierenden Abschreckungsszenario für Geflüchtete auf den ostägäischen Inseln fest. Dies, obwohl allen Politiker*innen, die seit 2015 vor Ort waren klar ist, dass das Abschreckungsszenario seit Jahren nicht funktioniert und dass Griechenland das Problem, immer mehr Geflüchtete aus Kriegsgebieten aufnehmen zu müssen, dauerhaft nicht mehr allein wird schultern können.

Welche Konsequenzen hat dies für unsere Tätigkeit auf Lesbos? Ende Februar 2020 brannte das zu diesem Zeitpunkt gerade geschlossene UNHCR-Camp Stage 2 an der Nordküste von Lesbos ab. Die aus der Türkei ankommenden Geflüchteten mussten deshalb teilweise völlig durchnässt auf unbestimmte Zeit und meist über Nacht am Strand ausharren, ohne zu wissen, wann sie von der Polizei abgeholt werden und was dann mit ihnen passiert. Am Ende der ersten Märzwoche stand das OHF Social and Community Center, das viele Geflüchtete mit Essen, ärztlicher Behandlung und vielen anderen Angeboten versorgte, in Flammen. Parallel dazu war durch Übergriffe rechtspopulistischer Gruppierungen die Arbeit am Strand, bei der Essensversorgung und die Fortbewegung auf der Insel für unsere Unterstützer*innen nicht mehr wie in früherem Umfang möglich. Die Hilfe und die Unterstützung der Schutzsuchenden wurde aber in kleinerem Rahmen weitergeführt. Aktuell sind die Hilfeleistungen durch die in ganz Griechenland verhängte Ausgangssperre aufgrund der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus auf unbestimmte Zeit weiter eingeschränkt.

Obwohl die Bedingungen für Asylsuchende und auch für Unterstützer*innen gerade sehr schwierig sind, wollen wir nicht aufgeben. Das Team Volunteers for Lesvos wird auf der Insel bleiben und gemeinsam mit anderen unabhängigen Initiativen weiterhin versuchen, auf die katastrophale humanitäre und asylrechtliche Lage der Schutzsuchenden aufmerksam zu machen, Versorgungslücken zu schließen und sichere Räume zu schaffen.

Ralf Henning / Anja Cames (Respekt für Griechenland)

März 2020

1, 2 & 3 Zahlen aus der Statistik des griechischen Bürgerschutzministeriums vom 24.3.2020 entnommen.

4 Der Name des Betreffenden wurde geändert.

5 https://dm-aegean.bordermonitoring.eu/2019/11/25/lawyers-joint-press-release-rejection-of-28-asylum-seekers-from-african-countries-due-to-a-lack-of-interpreters/

6 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013L0032&from=EN