Zurück von meinem vierwöchigen Aufenthalt auf der Ägäis-Insel Lesbos, auf der ich im Februar 2020 für die ‚Zeltpaten‘-Aktion unseres Vereins ‚Respekt für Griechenland e.V.‘ tätig war, hier ein Bericht über das in dieser schlimmen Situation Erreichbare. Es ging bei der Aktion darum, unbegleiteten Kindern und Jugendlichen und Familien mit kleinen Kindern bei der Bewältigung ihres schwierigen Lager-Daseins beizustehen. Die Aktion haben viele Spenderinnen und Spender in kürzester Zeit ermöglicht.
Allein reisende Jugendliche unter 18 Jahre und Kinder, die auf der Flucht von Schleusern von ihren Familienangehörigen getrennt wurden oder deren Eltern unterwegs gestorben sind, vegetieren zu Hunderten in den Olivenhainen um das Lager Moria herum, ohne Wasser und erreichbare Toiletten, unterernährt und oft krank. Viele schlafen nachts bei den immer mehr zu Brennholz zerhackten Olivenbäumen, zwischen Müll und Gestrüpp unter Plastikplanen oder in großen Müllsäcken als Schlafsack. Nur wenige, meist Mädchen, kommen bei fremden Familien im Zelt unter.
Die Minderjährigen werden zwar amtlich erfasst, sie bekommen ein Identitätspapier mit Stempel, aber eben nicht wie die Erwachsenen die blaue Geldkarte des UNHCR mit 90 Euro für den Monat. Frauen und Kinder bekommen nur 50 Euro auf die Karte. Davon leben die Familien. Die Jugendlichen können sich täglich eine Flasche Wasser holen, haben aber keine Geldkarten, auch gibt es Essen nur unregelmäßig und viel zu wenig. Der Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung ist ihnen versperrt.
Die regenfreien Tage verbrachte ich damit, im nicht ungefährlichen Alleingang im ‚Dschungel‘, wie die wilde Gegend zwischen Olivenhainen und Müllbergen genannt wird, jene unbegleiteten ‚Minors‘ zu kontaktieren und Versorgungslisten mit Vornamen, Geburtsjahr, Kleider- und Schuhgrößen für meine Einkäufe anzulegen. Wegen der Sprachbarrieren hatte ich zu englischsprachigen Lagerbewohnern Kontakte aufgebaut, die sich bereits seit längerem sporadisch um die Minors im Gelände kümmerten. Über diese Übersetzer konnte ich indirekt mit Jugendlichen, die nur Farsi oder Arabisch sprachen, über ihre Lage kommunizieren.
Meine aufwändigste Tätigkeit besonders in der ersten Zeit bestand darin, die LKW-Lieferungen zu organisieren, mit denen die von mir ausgesuchten Versorgungsmaterialien über die Fähre vom Festland herüber gebracht wurden. Durch das vorhandene und wöchentlich nachwachsende Spendengeld war die Finanzierung gesichert für geräumige Zelte, Decken, Schlafsäcke und Matten. Holzpaletten als vor Wasser und Matsch schützenden Untergrund für die Zelte gab es in der Umgebung zu kaufen.
Zur Ergänzung der verdeckten Einzelaktionen hatte ich frühzeitig Treffen vereinbart mit NGOs, die sich um die Versorgung von Geflüchteten kümmern. Drei davon zeigten sich interessiert an einer Zusammenarbeit: Eurorelief, eine christliche NGO, die in Moria das inside camp betreut, und das ‚team humanity‘ aus Dänemark, das mit seinem Warehouse, nur 100 m von Moria entfernt, auch die Bewohner der Außenbereiche versorgt.
Bei der dritten Einrichtung handelte es sich um ‚Mouvement on the ground‘ (MOTG) aus Holland. Sie haben das Gelände vor dem Hot Spot Moria gemietet und arbeiten dort mit ‚Better days‘ aus Holland und ‚Syniparxi‘, einem aus Einheimischen bestehenden Verein zusammen.
Mit der MOTG-Leiterin saß ich mehrfach beratend zusammen. Sie meinte nach zwei Wochen, es seien gerade einige Container mit Zelten und Schlafsäcken aus der Schweiz unterwegs. Zudem lebten die Familien vorzugsweise in aus Paletten selbst gezimmerten Bretterhäuschen mit Planen darüber. Diese stehen in der Tat überall. Es sieht aus wie ein riesiges Favela-Dorf, dazwischen Igloo-Zelte. Sie riet mir zu diesem Zeitpunkt davon ab, weitere Zelte als die fünfzig bereits angeschafften zu kaufen, mit deren Verteilung und Aufbau ich über die Wochen beschäftigt war. Was viel dringender benötigt würde, sei Geld für Solaranlagen wegen der dauernd ausfallenden Stromversorgung für das Gelände mit den Familien-Wohnhütten. Da die Zielgruppe unserer Zeltpaten-Aktion jedoch hauptsächlich die ‚Minors‘ waren, einigten wir uns auf die finanzielle Beteiligung an der Ausstattung von 1000 Versorgungspaketen, die gemeinsam von MOTG, Better days und Syniparxi für Jugendliche bereit gestellt werden. Sie enthalten u.a. Solar-LED-Lampen mit Handylademöglichkeiten, nötig auch für den Selbstschutz bei Dunkelheit in dem unsicheren Gelände und als Zelt-Innenbeleuchtung ohne teure Batterien.
Auf besonderes und freudiges Interesse stießen die großen Zelte für 5-6-Personen mit abtrennbarem Wohnraum, bei deren Aufbau ich selbst öfters helfen musste. Ihre Höhe von 1.95 m macht das Aufrechtstehen im Inneren möglich und sie bieten genügend Platz für ein erträgliches und geschütztes Zusammensein gerade bei schlechtem Wetter. Zusammen mit den gespendeten Schlafsäcken, Decken und Matten boten sie für die Jugendlichen und auch für junge Familien mit kleinen Kindern eine weit bessere Wohnsituation als die z.T. vorhandenen viel zu engen, zu niedrigen und meist undichten Igloo-Sommerzelte, dazu mit 4-5 Personen oft völlig überbesetzt.
Wichtig war auch, so wurde mir vor Ort nicht nur angesichts der weit verbreiteten starken Erkältungskrankheiten deutlich, die Versorgung der Menschen mit wintertauglichem Schuhwerk. Viele der Bewohner hatten bei der Kälte nichts als Flipflops, Plastik-Sommersandalen an ihren nackten Füßen. Durch Preisverhandlungen und günstige Einkäufe mit Mengenrabatt konnte ich viele der Jugendlichen und Kinder mit Socken und Schuhen, die ihnen passten und ihnen gefielen, ausstatten.
Wie groß die Not bzgl. winterfestem Schuhwerk war, erfuhr ich an einem Tag, als ich 50 Paar gerade gekaufte Schuhe im Auto hatte zur gezielten Verteilung an die Minors im ‚Dschungel‘. Beim Einparken am Stacheldrahtzaun von Moria sahen Kinder die Schuhe durchs Autofenster. Gefühlt 30 Menschen jeden Alters stürmten daraufhin mein Auto, selbst das Autodach. Gottlob gab es innen einen Knopf für die schnelle Verriegelung der Türen. Alle wollten an die Schuhe, es wurde richtig bedrohlich für mich und das geliehene Auto, es blieb mir nur die Flucht. Am nächsten Tag steckte ich die Schuhe in schwarze Müllsäcke und brachte sie dezent zu den Jugendlichen ins Gelände zur Verteilung.
Fast täglich traf ich auf unerwartete Situationen. Einer Familie wurde nachts das Zelt aufgeschlitzt, alle Personaldokumente, sämtliches Geld und das für die Kommunikation mit den Verwandten wichtige Handy waren gestohlen worden. Damit sie wenigstens Essen kaufen konnten, steckte ich dem Vater Geld zu. Auch andere Familien, mit deren Notlage ich mich persönlich konfrontiert sah, unterstützte ich spontan mit Geld für Windeln, Binden, Medikamente etc. Immer mit dem Gefühl, dass es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Die dankbaren Augen, manches Mal voll Tränen und die Freundlichkeit dieser Menschen trotz allen Elends waren mir ein Trost. Ich empfand mich dabei als Brücke zwischen unserem Wohlstand und ihrer Not – mit dem Gefühl eigener Hilflosigkeit, dann alle dort sind ja arm.
Die Situation auf Lesbos und den anderen Inseln in Türkei-Nähe änderte sich schlagartig am Tag vor meiner Rückkehr nach Deutschland am 28.Februar. Gewaltszenen gegen Geflüchtete, gegen Volunteers, NGOs und internationale Journalisten häuften sich innerhalb einer Woche, das Schulzentrum von ‚One happy family‘ und eine UNHCR-Registrierungsstelle wurden niedergebrannt. Vollbesetzte Mietwagen von NGOs wurden schwer beschädigt.
Die lange überwiegend freundliche Stimmung auf der Insel war gekippt, konkret veranlasst durch den Athener Regierungsplan, auf den Inseln geschlossene Lager einzurichten, zusätzlich zu den vorhandenen. Die Reaktionen in der Bevölkerung waren heftig. Die Geflüchteten und ihre Helfer wurden von Rechtsradikalen körperlich bedroht und angegriffen. Die Flüchtlinge hörten nicht mehr ‚welcome‘, sondern ‚verschwindet‘, ‚kehrt um‘, ‚bleibt draußen‘. Nichts anderes signalisiert die EU. Griechenland als „Schutzschild von Europa“ wird nicht daran gehindert, bewaffnetes Militär und Polizei an der Außengrenze einzusetzen und das Asylrecht auszusetzen, ein klarer Verstoß gegen internationales Recht. All das stimmt inhaltlich mit den Zielen der griechischen „Sturmabteilungen“ (Tagma Efodou) und herangereisten rechtsradikalen ‚Patrioten‘ überein, man geht quasi arbeitsteilig vor.
Die Corona-Krise tat ein Übriges. Humanitäre Organisationen bereiten sich auf einen Ausbruch der Epidemie im syrischen Idlib und auf Lesbos vor. Viele notwendige Maßnahmen lassen sich aber gar nicht umsetzen. Auf den griechischen Inseln sind die Inselspitäler für die Versorgung der Lagerbewohner zuständig, bereits heute sind sie aber vollkommen überlastet. Auf Samos, wo das Lager unmittelbar an den Hauptort der Insel angrenzt, gibt es Gerüchte, dass die Geflüchteten in die neue geschlossene Containersiedlung im Hinterland zwangsumgesiedelt werden. Damit würde der Ansteckungskontakt zur Lokalbevölkerung eingeschränkt, so hofft man.
Auch anderswo in der EU will man die Lagerbewohner in Corona-Zeiten möglichst von sich fernhalten. Die Evakuation der 1600 unbegleiteten Minderjährigen auf den fünf Inseln, zu der sich Deutschland und einige andere Staaten bereit erklärt hatten, wurde vorerst auf Eis gelegt. Auch das Uno-Flüchtlingshilfswerk hat sein Umsiedlungsprogramm für Flüchtlinge vorübergehend eingestellt, und das trotz der Forderung von ‚Mediziner ohne Grenzen‘ und anderen Organisationen, die Lager in der Ägäis wegen der Corona-Gefahr rechtzeitig zu evakuieren.
Ab 23.3.20 herrscht weitgehende Ausgangssperre, in den Lagern und im Land.
Die internationalen Helfer*innen sind größtenteils abgereist, heißt es. Unser Team „Volunteers for Lesvos“ von ‚Respekt für Griechenland‘ will jedoch vor Ort bleiben. Aber niemand weiß, was demnächst sein wird.
Abschließend an alle, die an ‚Respekt für Griechenland‘ gespendet haben, ganz herzlichen Dank! Die Spenden wurden direkt zum Wohle all derer verwendet, die ich auf Lesbos mit unserer ‚Zeltpaten‘-Aktion entsprechend unserer Zielsetzung erreichen konnte.
Claus Kittsteiner www.clauskittsteiner.wordpress.com (Lesbos-Hilfe) c.k.info@gmx.de