Rezension des Films Der Balkon von Axel Sütterlin


Was sollst du dann noch sagen?
Chrysanthos Konstantinidis hat das Schicksal seiner Heimat verfilmt

Das Ereignis, um das es in Der Balkon (Το Μπαλκόνι) geht, liegt lange zurück; es ist ein ganzes Menschenleben her, nämlich beinahe 80 Jahre. Der Regisseur berichtet in einer dokumentarischen Reportage vom bitteren Untergang des Heimatdorfes seiner Familie während des Zweiten Weltkrieges. Der Ort Lyngiades wurde am 3. Oktober 1943 durch deutsche Wehrmachtssoldaten ausgelöscht. Die verbliebenen Einwohner, vor allem Kinder und Alte, wurden ermordet, die Häuser geplündert und angezündet. Den direkten Angriff überlebten nur 5 Einwohner, darunter ein 1 1/2jähriger Junge; weitere Einwohner entkamen dem Massaker, weil sie zur Ernte auf den Feldern waren. Das Verbrechen erfolgte auf höchsten Befehl als Strafaktion der deutschen Besatzungstruppen gegen griechische Partisanen. Die Verantwortlichen sind nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Auf griechischem Boden finden sich viele Märtyrerdörfer, welche ein ähnliches Schicksal erlitten haben.

Der Film ist im Jahre 2018 fertiggestellt worden; es liegt eine Originalversion von 101 min mit deutschen Untertiteln vor; für den Gebrauch in der Schule gibt es eine auf 43 min gekürzte Version.

Die Dokumentation ist kein Dokumentarfilm im eigentlichen Sinn. Die geschilderten Fakten stammen überwiegend aus Interviews, welche der emeritierte Bremer Rechtshistoriker Christoph Schminck-Gustavus vor über vierzig Jahren mit einem damals üblichen Kassettenrekorder aufgenommen hat. Der griechische Regisseur ist selbst betroffen und zeigt diese Betroffenheit in seinen Bildern. Wie ein veristisches Instrument sehen wir immer wieder den Rekorder, der die Zeugnisse aus vergangener Zeit enthüllt. Historische Originalaufnahmen ergänzen die Schilderungen.

Am Beginn betreten wir ein Schwarzbild, dessen Farbe uns unmittelbar in ein Nichts stellt – wir befinden uns im Ungewissen und können nicht ermessen, was als Nächstes kommt. Die Schilderungen, welche nun zu hören sind, stammen von den Kassetten, das Klicken des Abspielgerätes ist deutlich zu hören. Wir hören griechische Frauen, die das Schlimmste erzählen, was sie erlebt haben: Das Sterben der Kinder und Angehörigen. Weil wir keine Bilder sehen, steigen in uns die Bilder des Schreckens empor, in denen wir das Erzählte imaginieren. Die Schilderungen gehen in schrecklichste Einzelheiten, die uns nach Halt suchen lassen. Einzige Hilfe für uns ist der unerbittliche Untertext, der jedoch auch nur das erlebte Grauen der Stimmen nennen kann.

Zeitzeugen und Kinder der Opfer schildern, wie sie die Teile der Ereignisse zu einem Gesamtbild brachten. Sie sind erschüttert – bis auf den heutigen Tag. Sie haben ihr Leben in großen Entbehrungen gelebt, wissen irgendwie, dass die schlimmen Ereignisse aus der Zeit vor 80 Jahren im kollektiven Lebensgedächtnis erhalten sind.

Unseren Ohren erscheinen die Worte – zumal aus dem Off gesprochen – wie eine Welt der Unglaublichkeiten; und doch vervollständigt sich die Erzählung durch die Angaben der Nachkommen und insbesondere die wissenschaftlichen Ergebnisse jahrelanger Forschung, die Schminck-Gustavus als Gewährsmann vor der Kamera mitteilt. Immer wieder dringen Klagelaute aus vergangener Zeit zu uns, die Ereignisse setzen sich aus verschiedenen Perspektiven in den Äußerungen auch bei uns zu einem Gesamtbild zusammen.

Die filmische Ästhetik verliert nie die Zuschauer: Die Kamera bleibt überlang auf den Motiven der Landschaft stehen. Es ist die griechische Berglandschaft im Epirus – eine schöne Aussicht auf einen schönen See, die so gar nicht passen will zum Gehörten, Gelesenen. Die Perfidie der Täter hat auch anderswo diesen Zynismus erzeugt. Wie ein Balkon schwebt der Ort Lyngiades weit sichtbar über dem Land und war zur Vernichtung ausgewählt, „um Panik zu verbreiten“.

Es gibt für das Grauen der Taten keine Worte, die wir heute sprechen können. Die junge Frau im Alter einer Enkelin kann nur weinen beim Schicksal ihrer Vorfahren. Die direkten Opfer haben keine Tränen mehr, nach all’ den Jahrzehnten. Auch ihre Wut und ihr Hass auf die Deutschen, den sie ehrlich äußern, erklingt aus einer fremden Welt.

Chrysanthos Konstantinidis verwebt die Bilder der Landschaft, die schweigend das Schicksal der Menschen trägt, mit Hilfe eines musikalischen Netzes aus einfachen Tonfolgen bis hin zum Volkslied, das unvermittelt erklingt, doch in der Instrumentierung reduziert ist auf wenige Klangkörper. Die Töne ergänzen das im Bild Gesagte, nehmen uns an die Hand und füllen die Gedankenwelt des Betrachters und Hörers aus. Wenn die Bilder stehenbleiben oder langsames Schwenken der Kamera einen statischen Effekt erzielt, haben wir die Chance, die schrecklichen Ereignisse zu erfahren. Es ist kein Wunder, dass die Bildaufnahmen aus der kalten Jahreszeit stammen; Buntes gibt es im Film nie. Bunt können die Opfer und ihre Nachkommen nicht mehr denken, denn bunt heißt farbenfroh. Der Ernst dieser Geschehnisse überträgt sich von Generation auf Generation. Doch: „Rache? Hätte man mir einen Deutschen, der getötet hatte, gebracht, vielleicht hätte ich mich rächen wollen. Aber wenn dein Vater meinen Vater getötet hat, was kannst du jetzt dafür?“

Die jüdische Totenklage am Ende von De Sicas „Il giardino dei Finzi Contini“ entließ vor 50 Jahren den Zuschauer mit einem enormen Schuldgefühl, einen Zuschauer, der Zeuge, Wissender der Taten sein konnte. Das hat Konstantinidis hier überwunden; es geht nicht um eine Frage der Schuld. Die Schuldigen sind nicht mehr greifbar. Es gibt jedoch den einen spürbaren Fortschritt: Gleich dem Zuschauer antiker Tragödien bleibt uns am Ende ein Zweigefühl. Die endlose Scham über das Tun des eigenen Volkes mischt sich mit einer Kraft, selbst aktiv zu werden, um dem ungerechten Ungleichgewicht in den Biographien einen Ausgleich zu verschaffen. Sind die Lebensläufe gleich, so bleibt uns der Appell des „Nie Vergessens“.

Die vermeintlich Schuldige – eine junge Braut, zu deren Hochzeit die Gäste am Tag des Massakers zogen und die Auslöser des Angriffs der deutschen Wehrmacht gewesen sein sollten – hat ein hohes Alter erreicht, nach einem Leben gebrandmarkt als „Hexe“; die Dorfbewohner suchten sie förmlich als die Schuldige. Sie erfährt vom wirklichen Verlauf der schrecklichen Aktion und hofft: „Jetzt kann ich loslassen. Jetzt kann ich in Ruhe sterben.“ Sie stirbt mit 100 Jahren; der Film nimmt sie mit, als ein großer Schwarm Vögel sich zur Ruhe in den Höhlen niederlässt.

Der Balkon ist ein Film, den man nicht vergisst. Die Taten der Mörder dürfen nicht vergessen werden; wir brauchen Hilfe, um zu verstehen, was, aber nicht warum es geschehen ist. Jede Form kriegerischer Auseinandersetzung ist falsch. Wir Menschen können nur leben, wenn wir den Anderen auch als Menschen behandeln.

Axel Sütterlin

Axel Sütterlin, geboren 1958 in Heidelberg
Journalist und Gymnasiallehrer; Studium der Archäologie, Altphilologie und Filmwissenschaft in Heidelberg und Rom; Promotion mit der Arbeit Petronius Arbiter und Federico Fellini an der Universität Heidelberg (1995); seit 2007 am Gymnasium am Kaiserdom Speyer – Fächer: Latein, Griechisch, Italienisch, Europäische Kulturkunde.