Die am 23.08.2018 stattgefundene Veranstaltung von „Heinrich Böll Stiftung-Büro Thessaloniki“ und „Respekt für Griechenland e.V.“ war ein Programmteil der „Europäischen Kulturtage 2018: Thessaloniki“ des Museums für Europäische Kulturen (9. August bis 9. September 2018) in Berlin-Dahlem zum Thema
„Salonica – Erinnerungen an das untergegangene „Jerusalem des Balkans“ Ein deutsch-griechischer Dialog über Vergessen, Verdrängen und Bearbeiten“
In diesem Zusammenhang steht der Beitrag „Das Jerusalem des Balkans“ von Niels Kadritzke, der am 06.10.1995 in „die tageszeitung“ (taz) veröffentlicht wurde. Im Folgenden geht der Autor in einer Vorbemerkung vom 26.08.2018 auf Entwicklungen ein, die sich seither ergeben haben und sich auf die verleugnete und wieder erinnerte jüdische Geschichte der Stadt Thessaloniki beziehen:
Vorbemerkung (26.08.2018)
von Niels Kadritzke zum Beitrag „Jerusalem des Balkans“ (06.10.1995)
Seitdem ich nachstehenden Text über das “a-semitische” Thessaloniki geschrieben habe, sind fast 23 Jahre vergangen. Damals hatte ich auch die Selbstdarstellung im Auge, die das ehemalige „Jerusalem des Balkans“ den auswärtigen Besuchern bieten würde, die zwei Jahre später die Europäische Kulturhauptstadt 1997 erkunden wollten. Im Oktober 1995 waren in der Ausstellungs- und Veranstaltungsplanung der Organisatoren lediglich Spurenelemente der jüdischen Geschichte Thessalonikis zu finden.
Das hat sich allerdings geändert. Deshalb muss ich diesem Text einige Bemerkungen voranstellen, die würdigen sollen, was seit 1995 geschehen ist. Dabei ist zunächst bemerkenswert, dass in die Planung für die Kulturhauptstadt doch noch ein Holocaust-Denkmal aufgenommen wurde, das knapp vor dem Ende des Jahres, nämlich am 23. November 1997 von Staatspräsident Stephanopoulos eingeweiht wurde. Die Skulptur des serbischen Künstlers Nandor Glid steht seit 2006 am Rand jenes „Freiheitsplatzes“, auf dem am 11. Juli 1942 die Demütigung und Vernichtung der Juden von Thessaloniki begonnen hat.
Ebenfalls im Jahr 1997 wurde die Planung des Jüdischen Museums von Thessaloniki beschlossen, das aus dem Kulturhauptstadt-Etat finanziert und im Mai 2001 eröffnet wurde. In diesem Museum, das auf Beständen des historischen Studienzentrums der jüdischen Gemeinde aufbaut, sind auch noch einige wenige Grabsteine zu sehen, die vom alten jüdischen Friedhof übrig geblieben sind.
Auf dem weitläufigen Gelände am Rand des Stadtzentrums, das bis 1943 mehr als 300 000 Gräbern Platz bot, befinden sich heute die Ausstellungshallen der Internationalen Messe von Thessaloniki und die Gebäude der Aristoteles-Universität. Doch bis vor wenigen Jahren war auf dem Uni-Campus kein einziger Hinweis auf den zerstörten jüdischen Friedhof zu finden, obwohl die Gehwege zwischen den Instituten zum Teil aus den alten Grabplatten bestanden. Die Rektoren der Aristoteles-Universität, die seit ihrer Gründung „500.000 Leichen im Keller“ hatte (wie Eberhard Rondholz einmal bitter vermerkt hat), weigerte sich jahrzehntelang, wenigstens eine kleine Gedenktafel auf dem Campus anzubringen.
Diese unfassliche Geschichsverleugnung, die von der jüdischen Gemeinde Thessalonikis als „Memozid“ empfunden wurde, ist seit dem 9. November 2014 Geschichte. An diesem Tag wurde eine Gedenkstätte zur Erinnerung an den alten Jüdischen Friedhof eingeweiht. Dass dies endlich geschah, ist vor allem ein Verdienst des Bürgermeisters Yiannis Boutaris, der seit Januar 2011 im Amt und seitdem bemüht ist, die osmanische wie die jüdische Dimension der Geschichte Thessalonikis nicht nur für die Besucher, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger bewusst und erfahrbar zu machen.
Wie entschieden, ja rücksichtslos sich Boutaris mit der Vergesslichkeit seiner Landsleute auseinandersetzt, demonstriert die Ansprache, die der Bürgermeister bei der Einweihung des Denkmals für den Jüdischen Friedhof auf dem Gelände der Aristoteles-Universität gehalten hat. Deshalb will ich diesen Vortext mit einem längeren Zitat aus der Rede beschließen, die Boutaris nicht zufällig am 9. November 2014 gehalten hat.
„Die Stadt Thessaloniki hat sich auf nicht zu rechtfertigende Weise sehr viel Zeit gelassen, um das Schweigen zu brechen und endlich der düstersten Phase ihrer Geschichte zu gedenken. Heute aber kann sie sagen, dass sie sich für dieses unberechtigte und sträfliche Schweigen schämt. Sich schämt für die Kollaborateure der Stadt, die mit den Okkupanten kooperiert haben, für die Nachbarn, die sich unrechtmäßig Besitztümer angeeignet haben, für diejenigen, die Mitmenschen denunziert haben, die zu fliehen versuchten.
Und vor allem schämt sie sich für die Verantwortlichen der Stadt: für den Bürgermeister und den Generalverwalter, die ohne weiteres einwilligten, dass städtische Arbeiter in einer Nacht 500 Jahre der Erinnerung zerstören und den größten jüdischen Friedhof Europas in eine Schädelstätte verwandeln konnten. Sie schämt sich für den Direktor des Archäologischen Dienstes, der mit Unverständnis reagierte, als sich die jüdische Gemeinde 1946 darüber beschwerte, dass man Grabsteine als Baumaterial für den Wiederaufbau der Kirche Ayios Dimitrios verwendet hat. Und sie schämt sich für diejenigen Universitätsrektoren, die nach dem Krieg die Gebäude der Universität neben und auf den zerstörten Gräbern errichtet haben, ohne auch nur eine Gedenktafel anzubringen.
Heute erkennen wir, dass der Verlust von 56 000 jüdischen Bürgern Thessalonikis ein Verlust für uns alle ist – für Christen, Juden und Muslime, für Atheisten und Agnostiker. Es ist ein Verlust für jene, die hier gelebt haben, aber auch für alle, die nach uns hier leben werden. Der Holocaust hat nicht nur die Vergangenheit unserer Stadt belastet, er hat uns –schlimmer noch – die Zukunft gestohlen. Wer wollte bezweifeln, dass Thessaloniki mit einer blühenden und kosmopolitischen jüdischen Gemeinde eine andere Stadt wäre?
Weil also dieser Verlust letzten Endes auch der unsere ist, ist das Gedenken an den Holocaust nicht nur eine Sache der jüdischen Gemeinde, sondern unser aller Sache. Er betrifft uns als Bürger Thessalonikis, als Griechen und als Europäer. Er stiftet eine neue Beziehung zu dieser Stadt und erweitert unseren Begriff von Menschlichkeit.
In diesem Sinn begrüßen wir heute die Entscheidung des Rektorats, die Erlaubnis für diese Gedenkstätte zu erteilen.“
Diese Sätze wären ein schönes, optimistisch stimmendes Gegenstück zu dem Text von 1995, der hier nachzulesen ist. Aber die griechische Realität von 2018 zwingt uns, dieses optimistische Bild zu relativieren. Am 20. Januar 2018 gingen in Thessaloniki etwa 100 000 empörte Bürger auf die Straße, um gegen ein geplantes Abkommen der Athener Regierung mit der Regierung in Skopje zu protestieren. Dabei waren immer wieder bösartige Parolen gegen den Bürgermeister Yiannis Boutaris zu hören. Denn der hat sich offen für eine Vereinbarung ausgesprochen, die dem nördlichen Nachbarn einen Namen „zugesteht“, der das Wort „Mazedonien“ enthält. Das aber ist für die große Mehrheit der Menschen im griechischen Teil Mazedoniens – und in Thessaloniki – ein Sakrileg: Für sie ist das Wort und der Begriff Mazedonien seit jeher und auf ewig „griechisch und allein griechisch“.
Bei dieser Demonstration führten faschistische Teilnehmer Plakate mit, auf denen Boutaris als „xeftila“ (etwa: käuflicher Lump) beschimpft und aufgefordert wurde: „Nimm dein Judenpack und hau ab!“ Ein anderes Plakat zeigte Boutaris bei der Grundsteinlegung für das Jüdische Museum, auf dem Foto hat er eine Kippa auf dem Kopf.
Dass es auch in Griechenland Faschisten mit antisemitischen Grundüberzeugungen gibt, ist keine Überraschung. Das Beunruhigende an solchen Episoden ist allerdings, dass die klein- und die gutbürgerlichen Patrioten, die sich über das Thema Mazedonien erregen können, die Rassisten nicht aus ihren Reihen ausgrenzen und nach Hause schicken. Was wiederum auf eine Gefahr verweist, die wir aus der Geschichte nur allzu gut kennen: Wo der Chauvinismus blüht, geht früher oder später die Saat des Antisemitismus auf.
Am 27. Juni dieses Jahres haben Unbekannte das Denkmal für die Holocaust-Opfer von Thessaloniki mit Farbe beschmiert. Kurz darauf verunstalteten geistesverwandte Täter das Denkmal auf dem Gelände der Aristoteles-Universität, das an den ehemaligen jüdischen Friedhof erinnert, mit blauer Farbe und übermalten die Gedenktafel mit einem Kreuz. Die Stadtverwaltung von Thessaloniki verurteilte diesen politischen Vandalismus mit dem Worten: „Die Schändung des Denkmals ist eine schimpfliche Attacke nicht nur auf das Gedenken unserer jüdischen Mitbürger, die im Holocaust umgekommen sind, sondern vor allem auf die kollektive Erinnerung und Geschichte der Stadt selbst.“
Niels Kadritzke / 26.08. 2018
Download: „Das Jerusalem des Balkans“ mit Vorbemerkung
(weitere Beiträge von Niels Kadritzke siehe
https://monde-diplomatique.de/blog-nachdenken-ueber-griechenland)