Deutsch-griechischer Jugendaustausch 2022 in Vitsa (Epirus)

„Auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte“

Ein Bericht von Olga Drossou und Andreas Poltermann*

Vom 5.-12. September 2022 fand der deutsch-griechische Jugendaustausch „Auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte“ in Vitsa statt, einem kleinen Dorf in Epirus etwa 30 km nördlich von der Regionalhauptstadt Ioannina. Jeweils 13 und 14 junge Menschen aus Deutschland und Griechenland, zwischen 20 und bis 30 Jahre alt, nahmen daran teil. Einige der Gruppe aus Deutschland hatten Migrationshintergrund.

Organisiert wurde das Projekt von Respekt für Griechenland e.V. (Berlin) und Epekeina Hora („das Land jenseits des Horizonts“) (Vitsa) und finanziert mit Mitteln des Deutsch-Griechischen Jugendwerks.

Der Ort Vitsa liegt in der Region Zagori, in der die 1. Gebirgsjägerdivision „Edelweiß“ während der Besatzungszeit (1941-1944) unvorstellbar grausame Verbrechen begangen hat. Zwischen Albanien im Norden und der Regionalhauptstadt Ioannina im Süden haben Einheiten dieser Division 342 Dörfer, 6.804 Häuser niedergebrannt und 2.660 Menschen ermordet. Nahezu alle Juden von Ioannina wurden von den deutschen Gebirgsjägern und der Gestapo in die Todeslager deportiert und zum allergrößten Teil ermordet. Einige wenige konnten fliehen und sich retten. Die Region hat bis heute die Zerstörungen und die Morde nicht vergessen und auch materiell nicht überwunden.

Ziele dieses Jugendaustauschs waren, dass die jungen Menschen sich näher kennenlernen, ihre geteilte Geschichte des 2. Weltkriegs erkunden und gemeinsam aufarbeiten. Hierbei sollten sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit der Kriegs- und Besatzungszeit, wie sie in den Erzählungen ihrer Familien und in der Erinnerungskultur ihrer Länder tradiert wird, austauschen und über ihre Gefühle und ihre Haltung als nachfolgende Generation reflektieren. Was bedeutet Schuld und was Verantwortung für die junge Generation? Wie stehen sie als junge Menschen, verankert in ihren Kulturen, zu den auch 80 Jahre danach fortbestehenden Forderungen nach Gerechtigkeit durch die Zahlung von Reparationen für die Zerstörungen und die Opfer, um den Weg frei zu machen für Versöhnung? Oder kann Versöhnung mit Hilfe symbolischer Gesten (Kranzniederlegungen, Bitte um Verzeihung) erreicht werden?

Die Begegnungen mit Bewohner/innen in Opferdörfern der Region (Aspraggeloi, Elati) und die symbolische Freilegung eines später touristisch nutzbaren „Friedenspfades“, der Besuch der Synagoge und des jüdischen Viertels von Ioannina, die Gespräche mit dem jüdischen Bürgermeister von Ioannina, mit Historikern und Experten aus der Region, die erstmalige Vorführung des Films „Der Balkon“, der vom Massaker der Wehrmacht in Lingiades handelt, in der gerade erst restaurierten ehemaligen Dorfschule von Lingiades machten die Aktualität der Geschichte erfahrbar. Das Leid der Opfer des Naziterrors, die kollektive Trauer und die Empörung vieler Nachkommen gegenüber der unnachgiebigen Haltung Deutschlands konnten empfunden und nachvollzogen werden.

In der Reflexionsphase wurde in Workshops mit eigens vorbereiteten Texten und Fragestellungen ein gemeinsamer Wissensstand über die deutsche Okkupation Griechenlands erarbeitet, der zum besseren Verstehen der Kräfte und Prozesse führte, die die persönliche Erinnerung und die erinnernde Aufarbeitung der Vergangenheit in Geschichte und Erinnerungskultur prägen. Immer wieder ging es um den Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen. Wieso waren zivilisierte Menschen im 20. Jahrhundert zu solchen Grausamkeiten und Verbrechen gegen wehrlose Kinder, Frauen und Greise im Stande? Wie war der Zivilisationsbruch des Genozids an den Juden Griechenlands und in ganz Europa möglich, wer hat dabei geholfen, wer hat Widerstand geleistet? Und mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft, wie können wir sicherstellen, dass ein solcher Rückfall in Diktatur und unkontrollierte Gewalt verhindert oder eingedämmt werden kann? Immer wieder kreisten unsere Gedanken und Gespräche um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine…

Am Ende der Begegnung entwickelten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Ideen für deutsch-griechische Erinnerungsprojekte, die das Wissen über die belastende Vergangenheit verbessern und neue Begegnungen im Interesse einer gemeinsamen Erinnerungskultur fördern könnten. Schließlich diskutierten sie über politische Antworten auf die Forderung der Menschen in Griechenland nach Gerechtigkeit, nach Entschädigungen und Reparationen. Mit Blick auf das enge Zusammenwirken von Griechenland und Deutschland in der EU wogen sie ab zwischen Macht, Opportunität, Gerechtigkeit und Machbarkeit. Nach kontroverser Debatte sprachen sie sich mehrheitlich für Reparationszahlungen Deutschlands aus.

In der Woche der Begegnung ging es um schwere und bedrückende Fragen. Wie wir sie behandelten, sollte nicht dem Schulunterricht ähneln, es galt, die bei der schulischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus oft beobachtete „Abwehr der Erinnerung“ durch eine gute Balance zwischen belastenden Teilen und entlastenden Aktivitäten zu vermeiden. Angeboten wurden deshalb auch Morgengymnastik, gemeinsame Essen, Musik und Tanz, Wanderungen und als Höhepunkt ein Rafting auf dem traumhaft schönen Fluss Voidomatis. Auf diese Weise hat die deutsch-griechische Begegnung bei uns allen schöne Erinnerungen und hoffentlich bleibende Spuren hinterlassen.

All das wird von einem Film dokumentiert. Die Filmgruppe, bestehend aus einigen Teilnehmenden unter der Leitung eines Dokumentarfilmers, hat alle Etappen der Begegnung gefilmt. Sie hat so nicht nur die Ereignisse, sondern auch die Stimmungen in der Gruppe und die Gefühle der jungen Menschen einfangen. Und schließlich entwickelte die Gruppe ein eigenes Filmprojekt, das das Anliegen des Jugendaustausches auf den Punkt bringt. Die Teilnehmenden sollten die Frage beantworten: Was bedeutet für dich Erinnerung?
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*Die Autorin und der Autor des Beitrags organisierten und begleiteten den Jugendaustausch.

Lesen Sie den Bericht von Anna-Maria Takaliou vom Jugendaustausch.
Sehen Sie den Film über den Jugendaustausch Auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte.
Sehen Sie das Filmprojekt „Was bedeutet für dich Erinnerung?“.