Niels Kadritzke: Warum Griechenland nicht Italien ist (Corona, Teil I)

Blog Griechenland
von Niels Kadritzke | 12. April 2020, letzte Änderung: 13. April 2020, 15:16 Uhr

Die Corona-Krise schlägt uns alle in Bann. Sie bestimmt die Prioritäten des eigenen Arbeitens und Nachdenkens, wie auch die Aufmerksamkeit für Probleme der näheren und weiteren Umgebung. Warum also noch über Griechenland schreiben?

Seit einiger Zeit habe ich ohnehin den Eindruck, dass das Interesse für das Land, für seine Menschen und deren Probleme rapide nachgelassen hat – zumal bei einem linken Leserpublikum.(1) Auch deshalb empfand ich die selbstauferlegte “Chronistenpflicht” in Sachen Griechenland immer stärker als eine Bürde, die der Mühe nicht mehr ohne weiteres wert ist. Und jetzt noch dieses teuflische Covid-19, das überfallartig in unser Leben getreten ist und unser Fühlen und Denken auf das persönliche Wohlergehen zu verengen droht.

Die einzige Antwort, die mir einfällt – man kann es auch intellektuelle Notwehr nennen – ist das Bemühen, die Auswirkungen der globalen Virus-Infektion auf eine ohnehin krisengebeutelte Gesellschaft darzustellen. Und entgegen jeder realistischen Einschätzung davon auszugehen, dass die Beschreibung der griechischen Probleme – und Erfolge – im Kampf gegen die Pandemie nicht ganz in der Sinflut der Corona-Kriegsberichterstattung untergehen wird.

In zwei Teilen werde ich darzustellen versuchen, wie das Corona-Syndrom die griechische Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beeinflusst und welche bleibenden Wirkungen die Pandemie hinterlassen dürfte. Ich werde dabei zwangsläufig auf Themen zurückkommen, die ich in den letzten Monaten auf diesem Blog und auf den Seiten von Le Monde diplomatique behandelt habe: Zum Beispiel die zentrale Problematik der wirtschaftlichen Entwicklung, oder die sich verschärfende Flüchtlingskrise, die Spannungen mit der Türkei, aber auch eine interessante Nebenfrage wie das Verhältnis von Staat und orthodoxer Staatskirche. Logischer Ausgangspunkt für diesen Rundumblick ist die Entstehung und Entwicklung der Corona-Pandemie, die Krisenstrategie der Regierung und die Reaktion der Bevölkerung.

Eine epidemiologische Erfolgsgeschichte
Was sich seit Ende Februar in Griechenland abspielt, wird inzwischen fast weltweit als eine “success story” gewürdigt, die dem Land in den zehn Jahren der Wirtschaftskrise nicht vergönnt war. Internationale Experten und Journalisten entdecken in Griechenland auf einmal “ein Vorbild für ganz Europa”. Das von der Finanzkrise gebeutelte Land habe “some of the most proactively restrictive measures in Europe” eingeführt, heißt es in der New York Times (vom 5. April 2020). Und diese Maßnahmen seien offensichtlich erfolgreich: “Griechenland hat seit dem Ausbruch der Pandemie nur 68 Todesfälle gezählt, während Belgien – mit einer etwa gleichgroßen Bevölkerung von 10 Millionen – 1283 Todesfälle meldet.”

Die Feststellung gilt nicht nur für die Zahl der Todesopfer. Auch nach dem Kriterium der Ausbreitung von Covid-19 weist Griechenland eine vergleichsweise günstige Bilanz auf: 2081 Corona-Fälle und nur 93 Todesopfer (Stand vom 11. April 2020). Die Zahl der Erkrankungen in Relation zur Einwohnerzahl liegt nur in Bulgarien, der Slowakei und Ungarn unter dem griechischen Wert von 200 Fällen auf 1 Million Einwohner (am 11. April). Besonders eindrucksvoll ist der Unterschied zu den anderen EU-Südländern. Die Quote der Corona-Fälle pro 1 Million Einwohner liegt in Italien 12 Mal höher, in Spanien 17 mal und in Portugal 7 mal höher als in Griechenland. Bei der Zahl der Toten pro Million Einwohner sind die Unterschiede noch dramatischer: für Spanien liegt diese Kennziffer 39 Mal, für Italien 36 Mal, für Portugal 5 Mal so hoch wie die griechische Todesrate.(2)

Keine Katastrophe wie in Italien und Spanien
Obwohl die Zahlen auch in Griechenland noch ansteigen werden und der Scheitelpunkt der epidemischen Kurve wahrscheinlich später erreicht sein wird als in Italien und Spanien, gehen die Experten schon heute davon aus, dass den Griechen eine ähnlich apokalyptische Entwicklung erspart bleiben wird. Das ist ein großartiger Erfolg für ein Land, dessen Gesundheitssystem noch weit stärker unter der Krise und den Haushaltskürzungen der letzten zehn Jahre gelitten hat, als es in Spanien, Portugal und Italien der Fall war.

Nach einem Report von OECD und EU aus dem Jahr 2018 wurden die öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen in der Krisenperiode (2009 bis 2017) in Griechenland viel einschneidender gekürzt als in Italien und Spanien, nämlich pro Jahr um 8,7 Prozent gegenüber 0,9 Prozent (Italien) und 1,4 Prozent (Spanien). Und 2017, nach acht Jahren Krise, waren die öffentlichen Gesundheitsausgaben in Griechenland weit unter das Niveau von 2009 abgesunken, während sie in Italien und Spanien deutlich höher lagen als 2009.(3)

Wie erklärt sich der relativ günstige Verlauf der Corona-Krise in Griechenland und welchen Anteil hat daran das Krisenmanagement der Regierung Mitsotakis? Zunächst muss ein Vorbehalt gemacht werden: Die Zahl der Tests (pro eine Million Einwohner) liegt vergleichsweise niedrig, was auch an den beschränkten Laborkapazitäten liegt.(4) Im Vergleich mit Griechenland wurden in den anderen EU-Südländern eine vielfache Zahl von Tests durchgeführt.(5) Die Dunkelziffer der Infektionen ist also groß, wobei alle Schätzungen über die nicht erfassten Fälle auf mathematischen Modellen beruhen, die nur bedingt auf Griechenland übertragbar sind.(6)

Dennoch steht der relative Erfolg außer Frage. Was also wurde in Griechenland richtig gemacht? Erstens hat die Athener Regierung sehr viel schneller und sehr viel konsequenter reagiert als die meisten EU-Partner, und vor allem als die anderen “Südstaaten”. Zweitens hat sich der Großteil der Bevölkerung sehr gewissenhaft an die strengen Regeln gehalten – jedenfalls weitaus disziplinierter als es dem Abziehbild des eigensinnigen, ungebärdigen Zorbas-Griechen entspricht.

Ausgangskontrolle mittels sms
Sofort nach Entdeckung der ersten Corona-Infektion am 27. Februar wurden sämtliche Karnevals-Veranstaltungen im ganzen Land abgesagt (das war bekanntlich in Deutschland nicht der Fall). Die ersten allgemeinen Einschränkungen folgten bereits zum 11. März, als Griechenland erst 99 Corona-Fälle und noch nicht einen einzigen Todesfall verzeichnete. Die Schließung betraf alle öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen, also Kindergärten, Schulen und Universitäten, aber auch die privaten Nachhilfeschulen (frontistiria), die ein Großteil der Gymnasiasten nachmittags besucht. Am 13. März (190 Fälle und ein Toter) folgte die Schließung von Restaurants, Kafenions und Bars, wie auch aller Museen und archäologischen Stätten.(7)

Am 23. März (624 Fälle) wurde eine allgemeine Ausgangssperre angeordnet. Das war elf Tage nach dem ersten Todesfall. Seit dem 24. März sind nur noch genau definierte Aktivitäten – wie Einkaufen – zugelassen, die strikt geregelt sind, etwa durch Kontrolle der Kundenfrequenz in Supermärkten. Zur Durchsetzung der Regeln wurden erhebliche Geldstrafen und ein technischer Kontrollmechanismus eingeführt: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nur noch mit Ausweis auf die Straße gehen; der Zweck des “Ausgangs” muss über eine sms-Adresse angemeldet werden. Wer bei einer Kontrolle keine entsprechende sms-Genehmigung auf dem Handy vorweisen kann, fängt sich eine Geldstrafe von 150 Euro ein. Ebenfalls scharf kontrolliert wird die Schließung von Restaurants und Kafenions, wobei für Regelverstöße sehr viel höhere Geldstrafen (bis zu 5000 Euro) fällig sind.(8) Und als sich an den Wochenenden der zweiten Märzhälfte zeigte, dass viele Leute an die Strände drängten, ohne das Abstandsgebot einzuhalten, zögerte die Regierung nicht, die Strände ebenso zu sperren wie zuvor die Gaststätten und Cafés.(9)

Was Reisebeschränkungen betrifft, so hat Griechenland bereits am 9. März (84 Corona-Fälle) alle Flüge von und nach Norditalien untersagt. Am 14. März (228 Fälle) wurde das Embargo auf den Luftverkehr mit ganz Italien erweitert. Seit dem 16. März (352 Fälle) durften auch keine Passagierfähren aus Italien mehr anlegen. Zum selben Zeitpunkt wurde die Flugverbindungen mit Spanien suspendiert, ebenso der gesamte Luftverkehr mit Nicht-EU-Ländern. Reisende aus einem EU-Land sind seit diesem Datum zu einer zweiwöchigen “privaten Quarantäne” verpflichtet, deren Einhaltung von der Polizei kontrolliert wird.

Die große Disziplin der Bevölkerung
Dieses rechtzeitige und exemplarisch strenge Anti-Corona-Programm “von oben” hätte jedoch nicht so positive Ergebnisse gebracht, wäre es nicht “von unten” angenommen worden. Was die Regierung der Gesellschaft zumutet, wird von den allermeisten Griechinnen und Griechen akzeptiert und mit großer Disziplin befolgt. Die erste Umfrage seit Beginn der Corona-Krise (von Pulse im Auftrag des Senders Skai TV) dokumentiert eine sehr breite Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung: Sie werden von 82 Prozent positiv und von nur 14 Prozent negativ beurteilt. Noch größer ist das Einverständnis mit der einschneidendsten Maßnahme, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die 86 Prozent als positiv und nur 10 Prozent als negativ bewerten.(10)

Woher rührt die Entschlossenheit der Regierung und die Zustimmung der griechischen Bevölkerung? Natürlich von der Angst, die in allen betroffenen Gesellschaften geweckt wurden und die wir in uns selber spüren. In besagter Umfrage bekennen 78 Prozent der Befragten, sie seien über das Virus besorgt, 45 Prozent sogar sehr besorgt. Diese Besorgnis hat in Griechenland einen ganz präzisen Ursprung: das Schreckbild Italien und die Schreckensvision eines überforderten griechischen Gesundheitssystems.

Die Entwicklung in Italien, wo bereits Ende Februar mehr als 1000 Corona-Fälle und 29 Tote verzeichnet wurden, hat alle Welt und ganz Europa schockiert. Aber in Griechenland war der Schock noch größer, denn Italien ist – auch emotional – ein “näherer” Nachbar als für andere EU-Länder. Sehr viele Griechinnen und Griechen haben an italienischen Universitäten studiert, und das schon seit Jahrzehnten. Es ist also ein dichtes Netz persönlicher Beziehungen entstanden, über das viele Griechen von Freunden über das italienische Drama informiert wurden. Und da die ersten zehn positiven Corona-Fälle jeweils auf Besuche in Norditalien zurückverfolgt wurden (11), entfaltete die Schreckensvision Bergamo in Griechenland eine besonders dramatische Wirkung.

Angst vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems
Der entscheidende Grund, warum die Horrormeldungen aus Norditalien in Griechenland roten Alarm auslösen mussten, ist allerdings ein zweiter Faktor. Die Regierung Mitsotakis machte sich keine Illusionen über den Zustand des öffentlichen Gesundheitssystems. Dieser Punkt wird auch in einer Analyse des “griechischen Wunders” aus spanischer Sicht hervorgehoben: “Die griechische Regierung wusste ganz sicher, wie fragil das Gesundheitssystem des Landes war, während die Regierungen Spaniens und Italiens ein übertriebenes Vertrauen in ihre Gesundheitssysteme hatten.”(12)

Auch die Bevölkerung hat in den Krisenjahren aus eigener Anschauung erlebt, wie schlecht die staatlichen Krankenhäuser mit elementaren Instrumenten und Hilfsmitteln ausgestattet sind. Einleitend habe ich auf den finanziellen Aderlass der Krisenjahre hingewiesen. Unter den Sparmaßnahmen litt auch die intensivmedizinische Versorgung, die im Fall von Pandemien besonders wichtig ist. Zu Beginn der Corona-Krise gab es in ganz Griechenland lediglich 870 Betten auf Intensivstationen, das sind 8,3 Betten pro 100 000 Einwohner. Diese Quote liegt noch um ein Drittel niedriger als in Italien, wo auf 100 000 Einwohner 12,5 Intensivbetten kommen.

Das griechische Gesundheitsministerium hat von den 870 Intensivbetten 247 für Corona-Patienten reserviert, angestrebt ist die Zahl von 400 Einheiten. Das erfordert auch die Aufstockung des Pflegepersonals. Obwohl bereits 3000 neue (wenn auch zeitlich begrenzte) Stellen für Ärzte und Pflegekräfte geschaffen wurden, bleibt die Rekrutierung von Personal das größte Problem, konstatiert Tassos Teloglou nach einer Recherche über die Intensivsationen im nationalen Gesundheitssystem (ESY). Im Notfall werde die Zwangsrekrutierung pensionierter Mediziner und Pflegekräfte erwogen. Teloglou berichtet auch über ein großes Defizit an Beatmungsgeräten, vor allem aber an elemantarer Schutzkleidung, bis hin zu Handschuhen und Schutzmasken. Auch der Verband der Krankenhausärzte beklagte “dramatische” Defizite, was den persönlichen Schutz des medizinischen Personals betrifft.(13)

Intensivbetten – die große Schwachstelle
Die Unterausstattung mit der nötigen Hygiene- und Schutzausrüstung, die im Lauf der Krisenjahre notorisch geworden ist, rundet das Gesamtbild eines öffentlichen Gesundheitswesens ab, das die intensivmedizinischen Belastung durch eine Pandemie nicht aushalten würde. “Wenn wir so viele Virus-Infizierte wie in Italien hätten, wäre unser System schon viel früher zusammengebrochen,” konstatierte der Kathimerini-Chefredakteur Alexis Papachelas, nachdem er selbst als Corona-Patient auf der Intensivstation gelegen hatte.(14) Man kann sich also vorstellen, wie erleichtert die Athener Krisenmanager darüber sind, dass die Intensivstationen seit dem 9. April mehr Corona-Patienten entlassen können als sie aufnehmen müssen.

In der Corona-Krise hat sich das Ungleichgewicht zwischen den öffentlichen und den privaten Kliniken, das sich im Zuge der Sparpolitik noch verstärkt hat, als fatal erwiesen. Denn die vielen privaten Institutionen bieten beim Kampf gegen die Pandemie keine Entlastung. Im Gegenteil: Die Privatkliniken schicken Patienten mit Erkältungssymptomen umgehend in ein öffentliches Krankenhaus, und in der Regel ohne Corona-Test, den sie nur gegen Barzahlung von 300 Euro bieten.(15) Der Verband der Klinikärzte (ΟΕΝGΕ) hat die Integration aller privaten Krankenhäuser inklusive ihres Personals in die staatliche Corona-Strategie gefordert. Aber die Notfallplanung der Regierung sieht lediglich vor, dass die Intensivstationsbetten im privaten Gesundheitssektor als Kapazitätsreserve beschlagnahmt werden können. Die entsprechende Rechtsverordnung bestimmt, dass in diesem Fall die Privatkliniken mit 1600 Euro pro Tag entschädigt werden, statt wie bisher mit 800 Euro (Avgi vom 26. und vom 29. März 2020).

Die besondere Angst der Inselbewohner
Der prekäre Zustand des ESY macht die Ängste der Griechinnen und Griechen überaus verständlich. Noch größer sind diese Ängste dort, wo die Schwächen des Gesundheitssystems in Ernstfall die tödlichsten Folgen hätten: auf den Inseln. Was die griechische Bevölkerung insgesamt beim Blick auf die norditalienische Katastrophe empfindet, zeigt sich noch verstärkt in der Reaktion der Inselgriechen auf die “Gefahr vom Festland”.

Schon zu Beginn der Krise forderte der Präfekt der Region Süd-Ägäis die Selbstisolierung der Inseln. Man wollte keine “Ausländer” jeder Art: keine Touristen, auch keine griechischen und schon gar keine Athener, die ein Ferienhaus auf den Inseln haben. Es ging die große Furcht um, dass viele von ihnen in der Osterwoche anreisen und bleiben, um ihr Feriendomizil als idyllische Quarantäne zu nutzen.

Der Zustrom von Großstädtern, die ihrem gefährdeten Biotop entkommen wollen, war auf manchen Inseln schon lange vor Ostern zu beobachten. In Tinos waren die Einheimischen bereits Mitte März durch die Ankunft der Athener Ferienhausbesitzer stark beunruhigt: “Als einzige Einrichtung, die für Corona-Fälle vorgesehen ist, haben wir hier einen zur Klinik umgewandelten Schiffscontainer vor dem Gesundheitszentrum.” (Kathimerini vom 19. März).

Die kleine Dodekanes-Insel Tilos (zwischen Rhodos und Kos gelegen) hat im Winter keine 500 Einwohner. Wenn jetzt Quarantäne-Touristen kommen, befürchtet die Bürgermeisterin Maria Kamma, “wird sich unweigerlich der Coronavirus in Tilos ausbreiten, mit vielleicht katastrophalen Folgen”.(16) Die ständigen Einwohner der Insel sind vorwiegend ältere Menschen mit den üblichen Vorbelastungen. Die Gesundheitsversorgung obliegt, wie auf allen kleineren Inseln, einem jungen “Agrararzt”, der eine Art Ersatzwehrdienst leistet. Und der hat nicht einmal Gesichtsmasken, klagt Maria Kamma. Ein schwerer Corona-Fall müsste von Tilos per Hubschrauber nach Rhodos geflogen werden, wo die nächste Intensivstation ist.

Die Bürgermeisterin hat einen Aufruf unterschrieben, in dem die Gemeindeoberhäupter von elf kleinen Inseln eine strikte Einschränkung von Inselreisen fordern. Die Regierung in Athen hat daraufhin verfügt, dass nur noch hinfahren darf, wer den ersten Wohnsitz auf der jeweiligen Insel hat. Aber auch diese Bestimmung wurde bereits von Athenern umgangen, die ihr Ferienhaus als Erstwohnsitz angemeldet haben.

Keine Ostern auf dem Lande
Die Ängste der Inselbevölkerung drücken im Grunde die Sorgen aus, die überall in der griechischen Provinz herrschen. Zumal angesichts der bevorstehenden Osterwoche, die am 12. April beginnt (das orthodoxe Osterfest wird 2020 eine Woche später als das “westliche” gefeiert). Dabei gibt es auf dem Festland noch mehr Anlass zur Unruhe als auf den Inseln: Zu normalen Zeiten fahren Hunderttausende Stadtbewohner aus Athen und Thessaloniki aufs Land; viele zu den Großeltern ins “alte Dorf”, aber noch mehr zu ihren Ferienhäusern. Häufig verlagert sich das Familienleben für die gesamte Osterwoche in die Provinz; man geht in der Nacht zu Sonntag zur Auferstehungsmesse in die Kirche und am Sonntag bedient der Familienvater stundenlang den Grill, über dem sich das aufgespießte Osterlamm (ganz oder zerstückelt) dreht.

Solche “normalen Ostern” sind im Corona-Jahr eine Schreckensvision – für die Landbevölkerung wie für die Regierung Mitsotakis. Deshalb hat Regierungssprecher Stelios Petsas bereits am 2. April die Parole ausgegeben: “Lasst uns dieses Jahr zu Hause bleiben und das Coronavirus aufspießen.” (ein etwas verunglücktes Bild, denn das Virus ist ja nicht unbedingt zum Verzehr geeignet).

Die Osterwoche wird in der Tat zur großen Herausforderung. Die Experten mahnen unentwegt, die ganzen bisherigen Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie könnten verspielt werden, wenn sich die Stadtbevölkerung zu Ostern über die Provinz ausbreitet. Die Athener Kathimerini appellierte bereits am 21. März an das Eigeninteresse der Osterflüchter: “Die Leute, die sich einbilden, sie könnten sich vor dem Virus in die Provinz oder auf die Inseln flüchten, laufen nicht nur Gefahr, den Virus weiter zu verbreiten. Sie bringen sich auch selbst in Gefahr, weil sie sich an Orte begeben, wo die Infrastruktur auch für die eigene Gesundheitsversorgung nicht hinreichend ist.”

Osterregime mit Geldstrafen und Fahrverboten
Gesundheitsminister Vassilis Kikilias hat für den Fall, dass die Leute nicht zu Hause bleiben, ein “Katastrophenszenario” beschworen. Deshalb will die Regierung das strenge Osterregime mit eiserner Hand durchsetzen. Das zeigen die Maßnahmen, die sie bereits am Mittwoch der vorösterlichen Woche in Kraft setzte, nachdem sich gezeigt hatte, dass viele Athener – in Antizipation des Oster-Embargos – schon Anfang April zu ihren Zweithäusern aufgebrochen sind.

Seit dem 8. April (und zunächst bis zum 27. April) gelten folgende Regeln:

  • durchgelassen werden nur Leute, die ihren ersten Wohnsitz im Dorf haben; die Berechtigung ist durch den Ausweis und die letzte Steuererklärung nachzuweisen;
  • wer das Recht auf den Dorfbesuch in Anspruch nimmt, darf bis zum 27. April nicht in die Stadt zurückkehren;
  • wer unberechtigt unterwegs ist, muss die (verdoppelte) Strafgebühr von 300 Euro zahlen, zudem wird das Autokennzeichen für zwei Monate eingezogen.

Um den österlichen Exodus zu stoppen, kontrolliert die Polizei sämtliche Fahrzeuge an den Ausfallstraßen der Großstädte, und zwar nicht nur an den Mautstellen der Nationalstraßen, sondern auch an allen Nebenstraßen. Ähnlich scharfe Kontrollen gelten für die Bahnhöfe und die Busbahnhöfe der KTEL-Linien, die die Großstädte mit der Provinz verbinden. Und natürlich für Flughäfen und Häfen, wobei nicht nur die von Piräus ablegenden Fähren kontrolliert werden, sondern auch die zwischen den Inseln verkehrenden Schiffe.

Die Orthodoxe Kirche im Abseits
Kikilias hat den von den Bürgern und Bürgerinnen geforderten Verzicht auf die vertrauten Oster-Usancen als Erfordernis eines “neuen Patriotismus” bezeichnet. Damit spricht er indirekt einen
interessanten Widerspruch an, der für eine konservative Regierung besonders schmerzlich und besonders schwer zu bearbeiten ist.

Der Corona-Virus attackiert auch ein religiöses Fest, das unauflöslich mit dem nationalen Selbstverständnis der Griechen verbunden ist. Die Feier der “Auferstehung des Herrn” ist nicht nur jahreszeitlich mit der “Auferstehung der Nation” im Kampf gegen die Osmanische Herrschaft verbunden, der am 25. März 1821 begonnen hat. Den traditionellen Anspruch der Orthodoxen Kirche, die “Nation” zu beseelen und zu repräsentieren, habe ich auf diesen Seiten des öfteren beschrieben (zuletzt am 29. Oktober 2019 unter dem Titel “Moderne Zeiten in Griechenland”). In dieser Analyse der ersten Monate der Mitsotakis-Regierung habe ich aufgezeigt, warum die Kirche auch für die “moderne” ND von Mitsotakis “ein Garant ihrer ideologischen Hegemonie” bleibt. Deshalb, so meine Schlussfolgerung, habe der große Modernisierer dem Erzbischof zugesagt, dass “alles beim Alten” bleiben werde.

Die letzte Aussage ist heute überholt. Die Zusage des Regierungschefs wurde inzwischen vom Coronavirus gebrochen. Die gemeingefährliche Pandemie zwang die Regierung, die Gottesdienste – wie jede größere Menschenansammlung – praktisch zu unterbinden. Dem ging ein zäher Streit mit der Führung der orthodoxen Kirche voraus, den Mitsotakis nach anfänglichem Zögern mit dem staatlichen Machtwort beendet hat: Die Kirchen bleiben auch in der Osterwoche für das Publikum geschlossen.

Coronavirus zum Abendmahl
Der Erzbischof und die “Heilige Synode” der orthodoxen Kirche hatten sich anfangs geweigert, ihre Gottesdienste dem allgemeinen Versammlungsverbot zu unterwerfen. Zudem hatten sie in einer brisanten epidemiologischen Frage eine unverantwortliche Position bezogen. Bei der Heiligen Kommunion, also dem Abendmahl, nehmen die orthodoxen Gläubigen vom Popen ein in Wein getränktes Stück Brot entgegen – und zwar von ein und demselben Löffel. Da am Ostersonntag stets besonders viele Gläubige am Abendmahl teilnehmen, schlugen die Gesundheitsexperten schon lange vor Ostern Alarm. Doch die Synode erklärte noch am 9. März, es sei völlig ausgeschlossen, dass der gemeinschaftliche Löffel zur Verbreitung des Virus beitragen könne. Die akrobatische Begründung lautete, schließlich hätten die Gläubigen zu allen Zeiten gewusst, “dass die Heilige Kommunion selbst inmitten einer Pandemie… jede menschliche und womöglich berechtigte Angst besiegt” (EfSyn vom 10. März 2020). Und der Bischof von Piräus präzisierte: “Wer an der Heiligen Kommunion teilnimmt, ist Gott nahe, der die Kraft zu heilen hat.”

Mit dieser gemeingefährlichen theologischen Exegese blieb die griechische Kirche der Linie ihres früheren (2008 verstorbenen) Erzbischofs Christodoulos treu, der vor zwanzig Jahren in den Debatten um die AIDS-Pandemie behauptet hatte: Die Heilige Kommunion “ist eine Arznei der Unsterblichkeit und nicht eine Todesursache”, daher sei “bereits die Vorstellung, dass vom Abendmahl eine Gefahr ausgehe, frevelhaft, blasphemisch und eine Sünde”. Ganz in diesem Geiste argumentierte unlängst ein populärer Pope namens Stylianos im staatlichen Fernsehsender ERT, das Abendmahlbrot sei schließlich der Leib des Herrn, und der sei nie von Mikroben oder Viren befallen gewesen. Am Ende der Diskussionsrunde erklärte der Wiedergänger des Christodoulos, wenn die Regierung die Gottesdienste unterbinden wolle, müsse sie “die Panzer schicken”.(17)

Primat des Staates über die Kirche
Die unverantwortliche Haltung der Kirchenoberen hat es der Regierung Mitsotakis ermöglicht, den Primat des Staates durchzusetzen, ohne die Panzer zu schicken. Und das, ohne ihren Rückhalt bei ihren kirchentreuen Wählern zu verlieren. Zwar unterstützten einige ND-Größen – darunter der erzpopulistische Vize-Parteivorsitzender (und Investitionsminister) Georgiades – die Position des Klerus, aber 90 Prozent der Bevölkerung hatten für die Haltung der Kirche kein Verständnis. Als die orthodoxe Synode auf einer zweiten Sitzung keine Schließung der Kirchen, sondern nur verkürzte Sonntagsgottesdienste anordnete und lediglich gefährdeten Personen vom Kirchenbesuch abriet, sprach Mitsotakis am 16. März ein Machtwort: “Die Regierung suspendiert alle Arten von Gottesdiensten jeglicher Religion und Glaubensrichtung… Der Schutz der öffentlichen Gesundheit erfordert klare Entscheidungen.”

Diese Regelung sollte zwar nur bis zum 30. März gelten, aber allen war klar, dass die Regierung das Verbot mindestens bis zur Osterwoche verlängern würde. Mitsotakis hatte der Kirche beigebracht, dass ihr Widerstand zwecklos war. Diese empfahl ihren Gläubigen nunmehr, doch lieber zu Hause zu beten und sich im übrigen an die Gebote der weltlichen Obrigkeit zu halten.

Tatsache bleibt dennoch, dass die orthodoxe Kirche Griechenlands “einfache Gottesdienste” noch zu einem Zeitpunkt gestatten wollte, als der Papst und der Ökumenische Patriarch von Istanbul – als informelles Oberhaupt der orthodoxen Kirchen – , jedwede Zeremonie mit Publikum untersagt und selbst die iranischen Ayatollahs die Freitagsgebete abgesagt hatten. Das werden auch strenggläubige Menschen nicht so schnell vergessen.

Wie groß der Prestigeverlust der Kirche in der griechischen Gesamtgesellschaft ist, wird die Zukunft zeigen. Schon heute steht fest, dass der Spielraum für die Regierung Mitsotakis, die Privilegien der Kirche zu beschneiden und ihre verfassungsmäßige Sonderstellung als “quasi Staatskirche” aufzuheben, bedeutend größer geworden ist. Die Frage ist nur, ob der Regierungschef gewillt ist, diesen Spielraum zu nutzen (siehe dazu den oben genannten Text vom 29. Oktober 2019).

Mitsotakis auf dem Gipfel der Popularität
Kyriakos Mitsotakis hat seit Beginn der Corona-Krise zweifellos an Profil und an staatsmännischer Statur gewonnen. Seine Entscheidungen entsprechen den Empfindungen der Bevölkerung ebenso wie dem “gesunden Menschenverstand”, den der Klerus so sträflich missachtet hat. In der Rolle des entschlossenen Entscheiders erzielt der griechische Regierungschef hohe Zustimmungswerte, die auch seiner Partei zugute kommen. Nach der oben zitierten Pulse-Umfrage liegt Mitsotakis bei der Frage nach dem “geeigneteren” Ministerpräsidenten mit riesigem Vorsprung vor Tsipras (55 zu 22 Prozent). Und seine Partei kommt bei der Sonntagsfrage derzeit auf 45 Prozent der Wählerstimmen, die oppositionelle Syriza nur noch auf 22 Prozent. Das bedeutet für die ND einen Zuwachs von 5 Prozent gegenüber dem Wahlergebnis vom Juli 2019, während die Syriza um 10 Prozent abgerutscht ist.

Was diese Entwicklung für die Perspektiven der Regierung und die Rolle der Opposition bedeutet, werde ich im zweiten Teil dieser Analyse darstellen. Was die erfolgreiche Anti-Corona-Strategie betrifft, so sei hier nur auf einen Faktor verwiesen, der wesentlich dazu beiträgt, dass sich Mitsotakis als “Krisengewinner” profilieren kann. Dass ein entschlossenes und zugleich unaufgeregtes Krisenmanagement der aktuellen Regierung zugute kommt, kennen wir auch aus anderen Ländern. Mitsotakis ist es darüber hinaus gelungen, als gewissenhafter aber nicht belehrender Vollzieher der “wissenschaftlich” gebotenen Entscheidungen aufzutreten. Für diese sachlich-medizinische Fundierung der Regierungspolitik ist ein Mann verantwortlich, der mit Mitsotakis zusammen ein fast unschlagbares Tandem bildet.

Sotiris der Retter
Sotiris Tsiodras ist das eigentliche “Gesicht” des griechischen Kampfs gegen den Coronavirus. Der Diaspora-Grieche ist Professor für Infektionskrankheiten an der Medizinischen Fakultät der Athener Universität und eine internationale Kapazität.(18) Er erläutert der Nation jeden Abend um 18 Uhr auf allen Fernsehkanälen die Entwicklungen des Tages auf so sachkundige, ruhige und anschauliche Weise, dass seine Ratschläge ebenso wie seine Warnungen fast von allen ernst genommen werden. Zugleich wirkt der schmächtige Mann nicht wie ein “Eierkopf”, sondern wie ein schlichter Mitmensch, dem bei traurigen Nachrichten die Tränen kommen.

Dass Tsiodras mit Vornamen Sotiris, also “Retter” heißt, ist ein Zufall, den viele nicht als Zufall empfinden. Eine Rettung ist er auf jeden Fall für die Mitsotakis-Regierung, die Tsiodras einen großen Teil des Vertrauens verdankt, das die Bevölkerung dem staatlichen Krisenmanagement entgegenbringt.

Dieses Vertrauen wird sie noch brauchen. Denn die bislang so ermutigende Entwicklung kann jederzeit durch plötzliche Entwicklungen gefährdet werden, die an drei Krisenherden nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich sind:

  • in den Strafvollzugsanstalten,
  • in den Siedlungen der griechischen Roma,
  • in den Flüchtlingslagern auf den Inseln und auf dem Festland.

Krisenherd Gefängnisse
Die Insassen der Strafvollzugsanstalten sind in allen Ländern durch die Corona-Pandemie besonders stark bedroht. In Krisenländern wie Iran wurden deshalb Tausende Gefangene entlassen. In Griechenland sind die Gefängnisinsassen wie das Personal besonders gefährdet, weil fast alle Anstalten überbelegt sind. Und zwar bis zu 250 Prozent, wie die Vereinigung der Athener Rechtsanwälte feststellt, die am 6. April Alarm geschlagen hat. In einem offenen Brief fordern die Anwälte von der Regierung umgehende Schritte, um die Strafanstalten zu entlasten und “die Gesundheit ihrer Insassen und Angestellten sicherzustellen”.(EfSyn vom 9. April 2020)

Damit konfrontiert die Corona-Krise die Athener Regierung mit den Folgen jahrzehntelanger Fehler und Versäumnisse, die das Gefängnissystem zur “ewigen Schande” für das Land gemacht haben (so Nikos Konstandaras in der Kathimerini vom 10. April). Anlass für dieses Urteil ist ein Bericht über den griechischen Strafvollzug, den das “Committee for the Prevention of Torture” (CPT) des Europarats am 9. April veröffentlicht hat. Als gravierendstes Probleme benennt das CPT die “Überbelegung und den chronischen Personalmangel” und zwar auch im Hinblick auf die medizinische Betreuung.

In dem Report heißt es, die griechischen Behörden seien außerstande, “auch nur ihre minimalen Verpflichtungen für die Sicherheit der Häftlinge und des Personals” zu erfüllen. Als besonders katastrophal werden die Verhältnisse in den (zu 140 Prozent überbelegten) Männerhaftanstalten von Athen (Korydallos) und Thessaloniki geschildert, die laut CPT “eine Beleidigung der menschlichen Würde” darstellen. Zum Beispiel weil die Insassen nicht ausreichend mit “Hygieneartikeln” versorgt sind und “keinen regulären Zugang zu Warmwasser” haben.(19)

Panik im Frauengefängnis
Angesichts solcher Verhältnisse fordert der Athener Anwaltsverein, aber auch die Griechische Menschenrechtsvereinigung und andere NGOs, ein Sofortprogramm zum Schutz der Strafvollzugsanstalten vor dem Corona-Virus. Besonders dringlich sei es, angesichts des prekären Gesundheitszustands vieler Häftlinge (und des hohen Anteils an Drogensüchtigen) positiv getestete Corona-Patienten zu isolieren, was in überfüllten Strafanstalten unmöglich ist.

Wie sehr sich die Betroffenen ihrer Gefährdung bewusst sind, zeigte sich letzte Woche im Frauengefängnis Elaiona bei Thiva in Böotien. Hier löste der Tod einer 42jährigen Insassin, die Symptome einer Corona-Infektion gezeigt hatte, eine Panik aus. Viele der Frauen verbrannten ihre Matratzen oder weigerten sich, in ihre Zellen zurückzukehren. Ihre Forderung nach sofortigen Schutzmaßnahmen sei nur zu verständlich, heißt es in einem Bericht der EfSyn vom 9. April, denn in derart überbelegten Anstalten werde sich ein eingeschleppter Virus mit “mathematischer Sicherheit” sehr schnell ausbreiten. Die Zeitung klagt, dass die staatlichen Behörden – trotz ständiger Ermahnungen der Experten und der Anwälte – für einen solchen Fall keine prophylaktischen Maßnahmen eingeleitet haben. Damit entziehe sich die Regierung, die beim Kampf gegen die Pandemie ständig an die “persönliche Verantwortung” der Bürger appelliert, der “staatlichen Verantwortung gegenüber den Gefängnisinsassen”.

Ein neuer Krisenherd: Roma-Siedlungen
Seit am 9. April in einem Ortsteil von Larissa zwanzig Menschen positiv auf Corona getestet wurden, werden Roma-Siedlungen in ganz Griechenland von der Öffentlichkeit als neuer Krisenherd wahrgenommen. Als solcher gilt nun Nea Smyrni: Hier leben etwa 3000 Roma, die bis zum 23. April unter Quarantäne gestellt sind. Deshalb ist das Gebiet polizeilich abgeriegelt; die Versorgung der Menschen erfolgt an acht Versorgungsstationen, wo die Bewohner von Nea Smyrni Lebensmittel und Hygieneartikel einkaufen können.

Die zweiwöchige Zwangsquarantäne einer kompletten von Roma-Familien bewohnten Siedlung ist eine heikle Sache. Zwar wurden zuvor schon in der nordgriechischen Provinz bei Kastoria zwei kleine Dörfer abgesperrt, in denen mehrere Corona-Fälle aufgetreten waren. Aber in Larissa handelt es sich um ein großes Wohnquartier am Rande einer mittelgroßen Stadt – und um eine Bevölkerungsgruppe, die in vieler Hinsicht ohnehin diskriminiert ist. Das haben auch einige der Roma von Nea Smyrni so empfunden, die heftig gegen die Absperrung protestiert haben.

Als Diskriminierung werden viele Roma-Familien auch zwei weitere Maßnahmen empfinden: In der ganzen Region Thessalien wurden die Wochenmärkte abgesagt; untersagt wurde auch die Tätigkeit der “fliegenden Händler”, die mit Lieferwagen durch die Dörfer fahren und Haushaltswaren oder auch lebendes Federvieh verkaufen. Das zweite Verbot betrifft ausschließlich Roma-Familien. Aber auch auf den Wochenmärkten sind Leute aus Nea Smyrni mit Ständen vertreten, und mehrere von ihnen gehörten zu den ersten positiven Corona-Fällen (Kathimerini vom 11. April).

Die Gefahr der Stigmatisierung
Die Quarantäne über eine ethnisch homogene Siedlung kann leicht eine diskriminierende Panik-Stimmung auslösen. Das zeigt sich bereits in der Umgebung von Larissa, wo einige Bewohner von Nea Smyrni bei Verwandten Zuflucht gesucht haben. In diesen Dörfern fordern die Bewohner das “sofortige Einschreiten” der Behörden, was immer sie damit meinen. Zudem hat die Provinzverwaltung Thessaliens angeordnet, dass auch in zwei weiteren Roma-Siedlungen (in Farsala und in Tyrvano) stichprobenhafte Tests vorgenommen werden. Begründet wird diese Maßnahme damit, dass zwischen Nea Smyrni und diesen Roma-Siedlungen viele und regelmäßige Kontakte laufen.(20)

Hier wird aber auch ein Problem deutlich, auf das die staatliche Corona-Strategie in ländlichen Gebieten stößt. In den Dörfern hat ja das Verbot von Veranstaltungen keine große Bedeutung; nachbarschaftliche oder Familienbeziehungen gehen weiter, nicht nur in und zwischen den Roma-Siedlungen. Aber natürlich ist bei den Roma eine besondere Lebensweise vorherrschend, die epidemische Ansteckungen begünstigt: etwa der enge Zusammenhalt von Großfamilien, die beengten Wohnverhältnisse in dicht besiedelten Vierteln, hygienische Defizite, die für ärmere Bevölkerungsgruppen typisch sind, aber auch die berufliche Tätigkeit als fliegende Händler.

Die Anti-Corona-Strategie des Staates muss allerdings gegenüber allen Bevölkerungsgruppen durchgesetzt werden, auch gegenüber den Roma. Und wenn es zutrifft, dass in den letzten Wochen noch traditionelle Roma-Hochzeiten stattgefunden haben (wie lokale Medien berichten), gibt es natürlich ein Problem. Dann stellt sich die Frage, ob “der Staat” sofort einschreitet, oder ob er eine Entwicklung zulässt, die später fast zwangsläufig zur kollektiven Zwangsquarantäne führt.

In Larissa stehen die Behörden jetzt vor einem Dilemma, das nur durch enge Zusammenarbeit mit der Roma-Gemeinde und ihren Repräsentanten zu lösen ist. Das scheint in Nea Smyrni zu funktionieren, jedenfalls zunächst. Dazu hat vor allem das Auftreten des Krisenmanagers Tsiodras beigetragen, der zusammen mit dem Innenminister nach Larissa fuhr, um die Betroffenen über die Gefahren aufzuklären. Dabei fand er die richtigen Worte, die nicht nur an die Einwohner von Nea Smyrni gerichtet waren: “Die Maßnahmen sind gegen die Verbreitung des Virus gerichtet, nicht gegen die Roma. Die Roma sind keine Bedrohung, sondern eine gefährdete gesellschaftliche Gruppe.”

Dennoch bleibt die Situation prekär. Und die Gefahr ist groß, dass “die Roma” von ihrer Umgebung zum Sündenbock gemacht werden, falls die Infektionszahlen in Larissa und Thessalien weiter ansteigen sollten. Zwar wurden bei weiteren 200 Tests bislang nur vier weitere positive Fälle ermittelt (Stand vom 11. März). Aber dass Nea Smyrni als Corona-Herd ermittelt wurde, macht viele andere Roma-Siedlungen in ganz Griechenland “verdächtig”. Ein solcher Generalverdacht wird die Roma insgesamt noch mehr zu einer “politisch gefährdeten” Gruppe machen, als sie es ohnehin schon sind.

Dabei gibt es in Griechenland auch noch andere Quartiere, in denen Menschen dicht beieinander und unter unzureichenden sanitären Bedingungen leben, ohne dass sie offiziell als potentielle Krisenherde gesehen werden. Das gilt zum Beispiel für viele Militärkasernen, wobei es über die “Corona-Durchseuchung” der griechischen Armee zwar viele Gerüchte, aber keine Informationen und schon gar keine Zahlen des Verteidigungsministeriums gibt.

Eine tickende Zeitbombe – die Flüchtlingslager
Als Krisenherde der Gefahrenstufe Eins gelten dagegen die Flüchtlingslager auf den ostägäischen Inseln und auf dem griechischen Festland, in denen oft Tausende Asylbewerber und Flüchtlinge unter Bedingungen hausen, die für die Verbreitung des Virus nachgerade ideal sind. Deshalb beschreiben UN-Flüchtlingsagentur UNHCR und mehrere NGOs höllische Orte wie das Lager in Moria auf Lesbos, als “tickende Zeitbombe”.(22)

Die Problematik dieser Lager werde ich im zweiten Teil dieser Analyse darstellen, zumal sie mit der Entwicklung der Flüchtlingskrise und dem Verhältnis Griechenland-Türkei zusammenhängt, auf die ich ausführlich eingehen werde. Im Mittelpunkt des zweiten Teils wird allerdings die Frage stehen, welche Folgen die Corona-Krise für die griechische Wirtschaft haben wird. Schon heute ist absehbar, dass dem Land eine tiefe Rezession bevorsteht, die angesichts der düsteren Perspektiven für den Tourismus-Sektor, die sogenannte Schwerindustrie Griechenlands, unvermeidlich scheint.

Das zentrale politische Motiv für die effektive und bislang so erfolgreiche Corona-Strategie der Athener Regierung ist das Bestreben, die Krise so zu steuern, dass wenigstens die zweite Hälfte der touristischen Saison “gerettet” wird. Nur dann könnte eine “zweistellige Rezession” (also ein Schrumpfen des BIP um mehr als 10 Prozent) vermieden werden, sagen die meisten Wirtschaftsexperten.

Aber selbst wenn es gelingen sollte, das Leben in Griechenland bis Ende Juni oder Anfang Juli einigermaßen zu normalisieren, wäre damit ein touristischer Aufschwung nicht gesichert. Ob die ausländischen Urlauber kommen können, hängt vor allem von den Krisenstrategien der anderen Länder ab – und von den ökonomischen Folgen der Krise im gesamten EU-Raum. Selbst wenn die Reiselust nicht mehr durch Embargos und Grenzkontrollen eingedämmt wird, würde eine schwere globale Rezession den finanziellen Spielraum für Ferienreisen drastisch einschränken. Wie man es auch dreht und wendet: Griechenland steht erneut vor schweren Zeiten.

Anmerkungen
1) Über die Gründe kann man spekulieren, eine wichtige Rolle spielen dabei aber sicher die enttäuschten Erwartungen an eine “linke” Regierung in Athen, wobei diese Enttäuschung nur den logischen Absturz aus überzogenen Hoffnungen darstellt.

2) Basierend auf den Zahlen vom 11. April. Ungeachtet der Unsicherheit bei der Erfassung der Fälle sowie der Dunkelziffern (aufgrund unterschiedliche Methodik und Häufigkeit der Tests) sind diese Zahlen sehr aussagekräftig.

3) Siehe den Report von OECD und EU: “Health at a Glance: Europe 2018”, S. 132 ff. Zu finden unter: https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/state/docs/2018_healthatglance_rep_en.pdf.

4) Kathimerini vom18. und 19. März 2020. Zum Beispiel wurden am 18. März 418 Corona-Fälle registriert, die das Resultat von lediglich 6000 Tests waren. Wegen des gravierenden Mangels an Test-Sets wurden in Griechenland (wie in Großbritannien) nicht einmal das Krankenhaus-Personal getestet, wenn es keine Symptome zeigte.

5) In Italien fast 5 Mal so viel, in Portugal knapp 4 Mal und in Spanien gut 3 Mal so viel wie in Griechenland (bis zum 5. April 2020); Zahlen nach: https://www.worldometers.info/coronavirus/

6) Der epidemiologische Chefberater der Regierung, Sotiris Tsiódras, geht davon aus, dass die Zahl der tatsächlichen Infektionen mindestens zehn mal höher liegt als die durch positive Tests belegten Fälle. Siehe Kathimerini vom 23. März 2020.

7) Ein Vergleich des Zeitablaufs mit anderen Südländern zeigt: Die Schließung der Schulen erfolgte in Griechenland einen Tag vor der ersten Toten, dagegen vergingen in Frankreich 15 Tage, in Italien 12 Tage und in Spanien 6 Tage; die Schließung der meisten Geschäfte wurde in Griechenland 5 Tage nach dem ersten Todesfall angeordnet, in Frankreich 29 Tage, in Italien 18 Tage und in Spanien 11 Tage später (nach einer Aufstellung in den Abendnachrichten von SkaiTV am 10. April 2020).

8) In den ersten zwei Wochen nach Einführung der Ausgangsbeschränkungen (am 23. März) hat die griechische Polizei landesweit 21 308 Strafmandate von 150 Euro verhängt; gegen 353 Besitzer von Geschäften und Lokalitäten, die gegen das Schließungsdekret (vom 12. März) verstoßen haben, wurden Verfahren eingeleitet (nach Kathimerini vom 6. April 2020).

9) Kurz darauf wurde das Schwimmen im Meer und jede Art von Wassersport generell verboten (Kathimerini vom 2. April 2020).

10) Bemerkenswert ist dabei der überparteiliche Charakter der Zustimmung: Auch von den Syriza-Wählern beurteilen 78 Prozent die Corona-Abwehrmaßnahmen als positiv. Weitere Details der Umfrage in Kathimerini vom 2. April 2020 (https://www.Kathimerini.gr/1072035/gallery/epikairothta/politikh/dhmoskophsh-megalh-h-anhsyxia-gia-thn-pandhmia-ka8olikh-h-apodoxh-twn-metrwn).

11) Die erste größere Gruppe von Infizierten brachte den Virus von einer Pilgerreise nach Israel und Ägypten mit.

12) So Cristina Losada auf der Website Libertad Digital, zitiert nach der griechischen Übersetzung in: Kathimerini vom 8. April 2020.

13) Bis zum 5. April waren erst 40 zusätzliche Intensivbetten bereitgestellt und mit dem nötigen Personal ausgestattet. Diese und andere Details zur Ausstattung der öffentlichen Krankenhäuser bei Teloglou, Kathimerini vom 23. März, Kathimerini (engl. Ausgbe) vom 29. März und Avgi vom 30. März 2020.

14) In seinem persönlichen Bericht in der Kathimerini vom 5. April spricht Papachelas von dem engagierten, aber unterbezahlten medizinischen Personal, dem oft die notwendigsten Schutzmittel fehlen und stellt sich die Frage, “warum unsere Krankenhäuser in vieler Hinsicht auf Spenden von Privatleuten angewiesen sind, während der Staat es nicht schafft, auch nur die notwendigsten Mittel bereitzustellen”. Solche Fragen waren dem Patienten vor seiner Corona-Infektion nie in denSinn gekommen.

15) Kathimerini vom 20. und vom 23. März 2020, Avgi vom 29. März 2020. Intensivstationsbetten im privaten Gesundheitssektor können zwar theoretisch als Kapazitätsreserve beschlagnahmt werden, wenn der Staat den Notstand erklärt. Per Rechtsverordnung hat die Regierung die “Entschädigung” für die Privatkliniken von 800 auf 1600 Euro pro Tag verdoppelt. Siehe Avgi vom 26. und vom 29. März 2020.

16) Siehe den Bericht (auf englisch) auf der Website Greek Reporter vom 6. April 2020, und EfSyn vom 27. März 2020.

17) Die Sendung vom 29. Februar ist auf youtube zu finden (https://www.youtube.com/watch?v=QdlOwGv6HmM).

18) Ein gutes Porträt von Tsiodras zeichnet Tom Ellis in der englischen Ausgabe der Kathimerini vom 9. April 2020.

19) Die englische Kurzfassung dieses niederschmetternden CPT-Berichts unter: https://rm.coe.int/16809e2059.

20) Diese und weitere Details aus EfSyn vom 11. März und aus der Internet-Zeitung onlarissa.gr vom 10. und 11. März 2020.

21) Stand vom 11. März. Die meisten positiv getesteten Bewohner von Nea Smyrni wurden in einem staatlichen Rehabilitationszentrum untergebracht.

22) Zum Beispiel von der European Stability Initiative in ihrem neuen Newsletter vom 2. April 2020 (https://www.esiweb.org/newsletter/mitsotakis-plan-who-needs-act).