Das Virus und die Flüchtlinge (Corona, Teil II)

Blog Griechenland
von Niels Kadritzke | 21. April 2020

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Eine notwendige Korrektur
Im unten stehenden Text über „Das Virus und die Flüchtlinge” muss ich eine Passage korrigieren. Einerseits bedaure ich meinen Fehler sehr und möchte mich dafür entschuldigen. Andererseits tue ich das in diesem Fall sehr gern. Denn die Berichtigung enthält eine gute Nachricht für die im März nach Griechenland gekommenen Flüchtlinge, deren Recht auf einen Asylantrag währen des ganzen Monats März „suspendiert“ war.

Weiter unten habe ich kritisiert, dass diese Flüchtlinge auch nach dem 1. April keine Möglichkeit haben sollen, einen Asylantrag zu stellen. Deshalb habe ich von einem „Menschenrechtsraub in 2000 Fällen“ gesprochen. Das ist offenbar falsch. Darauf hat mich eine geschätzte Kollegin aus Griechenland hingewiesen. Demnach hat Migrationsminister Koutsoumakos auf Fragen ausländischer Korrespondenten klargestellt, dass diese Migranten ihre Anträge nachträglich doch stellen können.

Mein Irrtum (und meine Empörung, die zu diesem Irrtum beigetragen hat) basierte auf dem Wortlaut der entsprechenden Rechtsverordnung und auf Berichten in der griechischen Presse, wonach die „März-Flüchtlinge“ in ihre Heimatländer abgeschoben werden sollen, ohne auch nur offiziell registriert zu werden. Wenn diese Absicht anfänglich bestanden haben sollte, so wurde sie von der griechischen Regierung aufgegeben, sei aus eigener Einsicht in die Rechtsverletzung, sei es auf Einspruch aus Brüssel.

Es ist also zu hoffen, dass die betroffene Gruppe von über 2000 Personen ihr Recht auf Überprüfung des Asylanspruchs verspätet ausüben kann. Bis es so weit ist, wird es allerdings noch dauern. Bis heute konnte keiner der Betroffenen einen Antrag stellen, weil die zuständigen Fachkräfte wegen der Corona-Gefahr die Lager derzeit nicht betreten dürfen. Nach Aussage von Regierungsvertretern kann dieser Zustand noch für unbestimmte Zeit andauern.

Besorgnis weckt auch eine weitere Unsicherheit: Noch bevor sich diese Lage ändert, könnte im griechischen Parlament ein Gesetzentwurf verabschiedet werden, der die Möglichkeit bzw. die Chancen von Asylanträgen auf griechischem Boden aufs engste eingrenzen würde. Nach einem Bericht in der EfSyn vom 2. April gibt es einen Ministerentwurf, der eine Bestimmung enthält, die den meisten der aus der Türkei kommenden Flüchtling das Recht auf einen Antrag absprechen würde. Die Bestimmung lautet: Wenn in Griechenland ankommende Flüchtlinge sich länger als zwei Monate in einem anderen Land (als ihrem Herkunftsland) aufgehalten haben, ohne dass sie dort auf Grund ihrer ethnischen Abstammung, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugungen strafrechtlich verfolgt wurden, soll ein Asylantrag als „unannehmbar“ gelten (die Formulierung lässt offen, ob der Antrag nicht gestellt werden kann oder automatisch abgelehnt ist).

Sollte eine solche oder ähnliche Formulierung zum Gesetz werden, würde sich Griechenland erneut einer Verletzung des Menschenrechts auf Asyl schuldig machen – wie mit dem Beschluss der Suspendierung für den Monat März. In dem Fall ist zu hoffen, dass Brüssel die Athener Regierung energischer an das geltende EU-Recht erinnern würde als Anfang März dieses Jahres.

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In diesem zweiten Teil meines Berichts über den Coronavirus und seine Folgen in Griechenland geht es ausschließlich um die Lage einer besonders gefährdeten Personengruppe: der Flüchtlinge und Migranten, die in den griechischen Lagern auf den Inseln wie auf dem Festland untergebracht sind. Rückblickend werde ich auch auf die Flüchtlingskrise von Anfang März eingehen, die sich vor allem an Grenze zur Türkei in Thrazien abgespielt und das ganze Land in Atem gehalten hat. Die wichtige ökonomische Dimension der Corona-Krise, also die Auswirkungen auf das griechische Wirtschaftsleben, werde ich in einem dritten Teil behandeln.

Dass ich mich ausführlicher als geplant mit der Situation der Flüchtlinge auf griechischem Boden beschäftige, hat zwei Gründe. Zum einen sollte ihre verzweifelte Lage – und die Verletzung ihrer Rechte – auch dann nicht vergessen werden, wenn alle Welt nur noch von der Corona-Bedrohung redet. Zum anderen sind diese Flüchtlinge und Migranten auch gegenüber der Corona-Bedrohung die schwächste Gruppe, die weder in Griechenland noch auf offizieller EU-Ebene viele Fürsprecher hat.

Vorweg will ich einige Informationen nachreichen, um drei Themenbereiche zu ergänzen und zu aktualisieren, die ich im ersten Teils dieses Corona-Berichts behandelt habe.

Die Krisenkurve
Was die Corona-Statistik betrifft, so hat sich die Kurve der Neuinfektionen weiter abgeflacht. Die Zahl der “aktiven Fälle” (abzüglich der Geheilten) ist am 19. April sogar erstmals zurückgegangen. Die signifikante Reproduktionszahl (die in Deutschland bei 0,8 liegt), konnte in Griechenland auf unter 0,6 gedrückt werden.

Mit Stand vom 20. April verzeichnet Griechenland 2245 Ansteckungsfälle und 117 Todesopfer. Die Zahl der Fälle pro einer Million Einwohner beträgt 214, bei den Todesfällen liegt diese Kennziffer bei knapp 11. Damit steht das Land in der globalen Vergleichstabelle auf Platz 85 respektive Platz 58. Noch deutlicher wird der günstige Verlauf der Krisenkurve, wenn man die Trends betrachtet: Bei der Kennnziffer “Corona-Fälle pro eine Million Einwohner” stand Griechenland noch vor zwei Wochen um 10 Positionen, bei der Kennziffer der Todesfälle um 20 Positionen schlechter da.

Was die Belastung des öffentlichen Gesundheitssystems betrifft, so wird die Zahl der Patienten, die auf Intensivstationen versorgt werden, von der Zahl der Entlassenen inzwischen deutlich übertroffen. Das bedeutet, dass die Kapazitätsgrenze der Intensivstationen nie erreicht wurde. Eine Schwachstelle ist nach wie vor die Test-Kapazität. Mit lediglich 54344 Corona-Tests pro einer Million Einwohnern liegt Griechenland im weltweiten Vergleich nur an 70. Stelle. Mit Tendenz nach unten: vor zwei Wochen stand das Land noch auf Platz 57 (Alle Angaben nach EfSyn vom 20. April 2020).

Roma-Siedlungen und Osterverkehr
Was die Roma-Siedlungen betrifft, so wurden bei den angeordneten Tests an 11 Orten in ganz Thessalien jenseits des Nea Smyrni-Viertel von Larissa (wo die ersten Corona-Fälle aufgetreten waren) in keiner Siedlung neue Infektionen ermittelt. Das ist erfreulich angesichts der Gefahr, dass “die Roma” von der übrigen Gesellschaft stigmatisiert werden könnten.

Die im ersten Teil geschilderten Maßnahmen, die den alljährlichen österlichen Exodus der Städter in die Provinz und auf die Dörfer verhindern sollten, haben erstaunlich gut gegriffen. Bei den umfassenden Verkehrskontrollen wurden zwischen dem 8. April und dem orthodoxer Ostersonntag am 19. April lediglich 106 Verstöße festgestellt und bestraft (mit 300 Euro Geldstrafe, in 95 Fällen zusätzlich mit Stillegung des Fahrzeugs für 60 Tage).

Corona und Flüchtlinge: Das erste Virus in einem Lager
Die erste Corona-Infektion, die auf ein Flüchtlingslager zurückverfolgt werden konnte, wurde am 29. März entdeckt; bei einer 22-jährigen Frau aus Kamerun, die vom “Aufnahme- und Identifikationszentrum” (KYT) für Asylbewerber in Ritsona zur Entbindung in ein Athener Krankenhaus gebracht worden war.
Das KYT von Ritsona liegt 70 Kilometer nördlich von Athen auf dem Gelände einer ehemaligen Luftwaffenbasis. Bei der Eröffnung im November 2016 war das Zentrum mit Containern für rund 600 Menschen ausgestattet, inzwischen ist dort die doppelte Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern untergebracht.

Die junge Frau aus Kamerun war zwei Monate zuvor mit ihrem Mann aus einem KYT in Nordgriechenland nach Ritsona “umgesiedelt”, wo innerhalb des Lagers ein “Viertel” für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika entstanden war. Nach dem positiven Test der jungen Mutter ermittelten die Gesundheitsbehörden, welche Kontakte sie in Ritsona gehabt hatte. Diese 63 Kontaktpersonen wurden am 2. April getestet, in 20 Fällen positiv, wobei alle Infizierten keine Symptome aufwiesen. Der Vater und das Neugeborene waren negativ, desgleichen das Betreuungspersonal des KYT, das ebenfalls getestet wurde.

Die vielen Kontakte innerhalb des Lagers erklären sich dadurch, dass die Frau in einem mit acht Personen belegten Container wohnte, und dass innerhalb des Lagers die strengen Abstandsregeln, die für die Außenwelt gelten, wegen der dichten “Wohnverhältnisse” nicht einzuhalten sind. Eine ähnliche Verdichtung herrscht in allen 38 Aufnahmezentren für Flüchtlinge und Asylbewerber, die über das ganze Land verteilt sind. In diesen Unterkünften leben insgesamt rund 70 000 Menschen unter Bedingungen, die bei einer “Invasion” des Virus dessen rasche Verbreitung begünstigen.(1)

Der erste Corona-Fall in einem KYT zeigte auch, dass der Virus aus der “griechischen” Umgebung stammt. Die infizierte Frau war wie die übrigen Bewohner des “afrikanischen” Viertels lange vor dem Auftreten der Epidemie in Griechenland angekommen. Das gilt auch für einen Infizierten im KYT Malakasa (30 Kilometer nördlich von Athen), der am 4. April mit schweren Symptomen in ein Athener Krankenhaus eingeliefert wurde. Der dritte Fall ist eine Frau aus Somalia, die in einem Hotel für Asylbewerber in Kranidi (östlicher Peloponnes) untergebracht ist, in dem zuvor eine Putzkraft am Coronavirus erkrankt war. Die Infektion der schwangeren Somalierin wurde am 19. April bei einem Krankenhaustermin in Navplion festgestellt. Beim Durchtesten aller Bewohner der Hotel-Unterkunft und des Personal ergaben sich 150 positive Fälle (zwei beim Personal). Deshalb unterliegt die ganze Einrichtung einer Quarantäne, seit 21. April gilt zudem für den ganzen Ort Kranidi eine Ausgangssperre zwischen 20 Uhr und 8 Uhr morgens.

Quarantäne für 2600 Menschen
Auch in Malakasa wurden die Umgebung des Erkrankten und das Personal getestet, wobei 5 der 100 Tests positiv waren. Nach den Corona-Befunden unterliegen die KYT von Ritsona und Malakasa – mit insgesamt 2600 Menschen – für zwei Wochen einer strikten Quarantäne. Damit soll eine Übertragung des Virus auf die “griechische Außenwelt” – die eine Rückübertragung wäre – ausgeschlossen werden. Ob man damit eine weitere Ausbreitung des Virus innerhalb der beiden Lager verhindern kann, wird sich zeigen.

Diese ersten Corona-Fälle werfen die Frage auf, warum nicht schon längst eine prophylaktische Krisenstrategie für die KYT-Anlagen umgesetzt wurde. Eine solche Strategie lag schon seit einiger Zeit in der Schublade. Erstmals erwähnt wurde sie am 22. März von Nikos Chardaliás, Vizeminister für Zivilschutz und Krisenmanagement, in einem Interview mit der Kathimerini. Der Plan “Agnodike” enthält Richtlinien für alle KYT und weitere Einrichtungen für Asylbewerber. (2) Er soll dem “Schutz des menschlichen Lebens dienen” sagte Chardalias, “dem Schutz aller Menschen, die sich dort aufhalten und deren Gesundheit bedroht ist”.

Ein Notfallplan – auf dem Papier
Einen Tag nach diesem Interview wurden alle KYT-Verwaltungen aufgefordert, “umgehend” die Voraussetzungen für die Umsetzung des Plans Agnodike zu schaffen. Der Dreistufen-Plan sieht für den Fall von Corona-Infektionen ein strenges Quarantäne-Regime vor, also ein streng überwachtes Ausgehverbot, und vor allem die Einrichtung eines Quarantäne-Zentrums innerhalb des KYT, das aus drei separaten Räumlichkeiten bestehen soll: “eine für ärztliche Untersuchungen, eine weitere für die Isolierung der Infizierten und eine dritte für die Therapie der Genesenden”.(3)

Für diese Räumlichkeiten waren neue Container erforderlich, die es allerdings nicht gab. Sie mussten erst aus dem Ausland beschafft werden, was die Regierung nur verzögert in Angriff nahm. Erst am 8. April verhandelte der Athener Migrationsminister Giorgos Koumoutakos mit dem österreichischen Innenminister Karl Nehammer über die Lieferung von 181 Wohncontainern.(4) Sein Erfolg bestand in der Zusage, dass die Container “möglichst schnell” in Griechenland eintreffen sollen. Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Wiener Regierung diene, so Koumoutsakos wörtlich, “der rechtzeitigen Vorbereitung für die Bekämpfung der wahrscheinlichen Folgen eines Zusammentreffens von Migrantenproblem und Pandemie”.

Die “rechtzeitige” Vorbereitung begann also 17 Tage nach Verkündung des Notfallplans und zehn Tage nach dem ersten Corona-Fall in einem KYT. Zurecht konstatierte die EfSyn am 9. April: “Wenn die Regierung rechtzeitig einen Plan hatte, was zu bezweifeln ist, fehlen ihr jedenfalls heute die wichtigsten Mittel für seine Umsetzung”.

Keine Entlastung der überfüllten Lager
Was das “Zusammentreffen von Migrantenproblem und Pandemie” betrifft, so hat sich die Regierung freilich in einen fatalen Widerspruch verstrickt: Seit den ersten Corona-Fällen auf griechischem Boden bezeichnete sie – auch durch den Mund von Mitsotakis – die Flüchtlinge und Migranten als potentielle Verursacher einer Pandemie (5); und doch hat sie nichts getan, um die völlig überfüllten Lager zu entlasten und zumindest die am stärksten gefährdeten Menschen in geeignete Unterkünften zu bringen. Zum Beispiel in leerstehende Hotels, wie es von Seiten vieler NGOs und auch von der EU-Kommission gefordert wird.(6)

Selbst in relativ organisierten KYT-Anlagen wie Ritsona, wo ein Container in Kojen für sechs bis acht Menschen aufgeteilt ist, die sich eine Toilette und ein Waschbecken teilen, sind die Risikogruppen extrem gefährdet. Die 23 Infektionen in der Umgebung der Kamerunerin signalisieren, dass die Abstandsregeln und die hygienischen Minimalstandards schlicht nicht einzuhalten sind. Das gilt umso mehr für die hoffnungslos überfüllten Lager auf den Inseln, die alle Welt heute mit dem Namen Moria verbindet.

Moria als potentieller Corona-Hotspot
Die skandalösen Zustände in Moria sind lange vor der Corona-Pandemie durch internationale Medienberichte zum Synonym für die Flüchtlingskrise auf griechischem Boden geworden.(7) Ähnlich überfüllt wie das Lager in Lesbos sind die sogenannten “Hotspot”-Zentren auf vier weiteren Inseln der Ostägäis (Chios, Samos, Leros und Kos). Die Kapazität dieser fünf Lager war für 5400 Flüchtlinge ausgelegt, inzwischen hausen hier über 40 000 Menschen.(8)

Was das für den Fall einer Corona-Infaktion bedeutet, beschrieb die griechische Sektion von “Médecins sans Frontières” (MSF) in einem Offenen Brief vom 13. März (zwei Tage zuvor war ein erkrankter Mann aus dem Lager Moria auf den Coroniavirus getestet worden, mit negativem Befund). Die in dem Hotspot herrschenden Bedingungen – Überfüllung, hygienischen Defizite und fehlende ärztliche Betreuung – bieten den “Nährboden für eine wahrscheinliche Epidemie”, erklärte die griechisches MSF-Sektion. Wenn es in einigen Bereich des Lagers Moria nur einen Wasserhahn für 1300 Menschen und „keinerlei Mittel zur Reinigung der Hände“ gibt, oder wenn fünf- und sechsköpfige Familien auf drei Quadratmetern schlafen müssen, sei es “praktisch unmöglich, die empfohlenen Maßnahmen zu befolgen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.”

„Wir bleiben im Zelt“
Ein anschauliches Bild dieser Verhältnisse gibt Tania Georgiopoulou in der Kathimerini (vom 24. März). Wie sollen die hygienischen Regeln eingehalten werden, wenn es nicht genügend Toiletten gibt und beim Essenfassen lange Schlangen entstehen? fragt die Journalistin. “Die Formel ‘wir bleiben zu Hause’, die für die übrige Bevölkerung gilt, damit Menschenansammlungen vermieden werden, übersetzt sich für Tausende Asylbewerber in den Satz ‘Wir bleiben im Zelt’. Aber wie soll man in einem Zelt mit 50 bis 70 Leuten – wie die großen UNHCR-Zelte, die hier benutzt werden, weil sie im Winter heizbar sind – eine Menschenansammlung verhindern?”

Der Bericht lässt auch Leute zu Wort kommen, die im Lager Moria als Betreuer beschäftigt sind. Sie sind ebenfalls stark gefährdet – und ebenfalls nicht geschützt. Zwar haben die Insel-KYTs bereits am 18. März Instruktionen für hygienische Maßnahmen bekommen, aber mangels Ausstattung sind sie kaum umzusetzen. Ein Betroffener erzählt: “Es gibt keinerlei Material zum persönlichen Schutz der in den Hotspots arbeitenden Frauen und Männer. Seit Beginn der Krise sind weder Schutzmasken, noch Handschuhe noch Desinfektionsmittel eingetroffen.” Angesichts dessen kann er die Anweisungen zur “tägliche Reinigung der gemeinschaftlich genutzten Innenräume” oder zur “ständigen Desinfizierung der Türklinken” nur als “schwarzen Humor” empfinden.

Ein anderer Angestellter, der anonym bleiben wollte, erklärte der Journalistin: “Wir haben hier alle Angst, dass wir dem Virus schutzlos ausgeliefert sind.” Die Abteilung für die Bearbeitung der Asylanträge habe ihre Büros aus dem Lager heraus verlagert. “Aber wir, die wir innerhalb des Lagergeländes arbeiten, sind verpflichtet weiterzumachen. Wenn hier was passiert, haben wir die ganze heimische Bevölkerung gegen uns. Die werden uns ins Meer schmeißen.”

Eine Warnung von Médecins sans Frontières
Was den Schutz der Lagerinsassen betrifft, so sind die im Plan Agnodike vorgesehehen Container, in denen Asylbewerber unter Ansteckungsverdacht getestet oder wenn nötig isoliert werden sollen, auch in Lesbos noch nicht eingetroffen. Immerhin hat die Regierung der Ostägäis-Region beschlossen, außerhalb des Lagers Moria (wie auch in Samos und Chios), ein Feldkrankenhaus für Erst-Hilfe-Fälle aufzubauen.

Beim Ausbruch einer Corona-Epidemie im Lager oder in dem irregulären Camp, das sich in den Olivenhainen rings um das KYT ausgebreitet hat, wird ein solches Feldlazarett völlig unzureichend sein. In dem Fall kann, wie die griechische Sektion von “Médecins sans Frontières” (MSF) erklärt, die Epidemie auch nicht auf die Umgebung des KYT begrenzt werden. Es sei denn man zieht um das ganze Gelände samt umliegender Zeltsiedlung einen Kordon, was den Einsatz von Militär erfordern würde.

Deshalb gibt es für MSF nur eine Lösung: Die griechische Regierung müsse die Mehrheit der 42 000 Menschen unverzüglich in geeignete Unterkünfte auf dem Festland verlegen. Es sei schon immer unverantwortlich gewesen, dass Menschen aufgrund der EU-Politik in Lagern wie Moria leben müssen, heißt es in der Erklärung, “aber wenn wir keine Maßnahmen zum Schutz dieser Menschen ergreifen, ist die Grenze zum kriminellen Handeln erreicht” (zitiert nach EfSyn vom 13. März 2020). Höchste Priorität müssten dabei die besonders gefährdeten Personengruppen genießen, also die Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen. Ihre Zahl wird von der UNHCR auf rund 1000 Personen geschätzt, dazu kämen die Familienangehörigen, die sie in die „sicheren Unterkünfte“ auf dem Festland begleiten müssten (Kathimerini vom 6. April 2020). Aber nicht nur diese Risikogruppen sind in Gefahr. Die These, dass die Population in den KYTs wegen des niedrigen Durschschnittsalters auch unterdurchschnittlich gefährdet sei, steht auf schwachen Beinen. Denn aufgrund der hygienischen Verhältnisse und der Ernährungslage in den Lagern sind auch viele der jungen Flüchtlinge gesundheitlich angeschlagen.(9)

Vorrang hat der Schutz der griechischen Bevölkerung
Kurz vor der MSF-Erklärung vom 13. März war auf Lesbos erstmals eine Griechin positiv getestet worden. Dieser erste Corona-Fall auf einer Hotspot-Insel hat auch die Athener Regierung alarmiert. Allerdings reagierte sie anders als von MSF und den anderen NGOs oder auch von der EU-Kommission gefordert.(9) Sie verordnete für alle KYTs auf den Inseln eine zweiwöchige prophylaktische Quarantäne. Allen Mitarbeitern von NGOs wurde der Zutritt untersagt; auch das Personal der Asylbearbeitungsstellen durfte keine Klienten mehr aufsuchen. Innerhalb der Lager wurden alle Gemeinschaftseinrichtungen, also auch die Schulräume und Spielbereiche geschlossen. Diese Maßnahmen galten damals nur für die Hotspots auf den Inseln. Doch dienten sie eher dem Schutz der griechischen Bevölkerung vor einer potentiellen Gefährdung aus den Lagern, als dem Schutz der Lagerinsassen vor einer inneren Epidemie, die viel wahrscheinlicher ist.

Diese Hierarchisierung der Schutzwürdigkeit macht ein Vorfall deutlich, der kürzlich aus Chios gemeldet wurde. Die Notiz in der Kathimerini vom 2. April bedarf keines Kommentars: „Die Polizei von Chios hat in Ausführung der Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus zwei Verstöße gegen das Verbot von Zusammenkünften von mehr als zehn Personen ermittelt. In beiden Fällen handelte es sich um Asylbewerber, die eine Kinderparty in einem Bereich außerhalb des Aufnahme- und Identifizierungszentrums von Chios organisiert hatten. In beiden Fällen wurden Verstöße festgestellt, die mit einer Geldstrafe in Höhe von 5000 Euro geahndet werden.“

Eine Anmerkung nur: Der Hotspot Vial von Chios (auf einem ehemaligen Fabrikgelände gelegen), war ursprünglich für 1200 Personen angelegt, heute beherbergt er 6000 Menschen.

Sonderbehandlung für neu angekommene Flüchtlinge
In Lesbos diente dem Schutz der Lager nur die spezielle Quarantäne für neue Bootsflüchtlinge, die nach dem 1. März aus der Türkei angekommen waren. Als potentielle Corona-Träger wurden sie nicht nach Moria geschickt, sondern zehn Tage lang auf einer im Hafen der Hauptstadt Mytilini liegenden Fähre interniert. Danach brachte man sie mit einem Transportschiff der Kriegsmarine nach Piräus und von dort in das KYT Malakasa. Insgesamt wurden 1137 Neuankömmlinge aus Lesbos, Chios und Samos auf dem Seeweg zum griechischen Festland transportiert. Auch von einigen kleineren Dodekanes- Inseln wurden 750 Flüchtlinge eingesammelt, die ebenfalls nach dem 1. März griechischen Boden erreicht hatten. Sie wurden nach Nordgriechenland in ein KYT bei Serres transferiert. Von dort sollen sie in die Türkei oder in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.

Diese “Sonderbehandlung” der nach dem 1. März angekommenen Flüchtlinge erfolgte zu einem sehr präzisen Zweck. Die geschlossenen Einrichtungen, in denen sie abgeliefert wurden, dienen faktisch als Abschiebelager. Denn die griechische Regierung hat all diesen Neuankömmlingen, die überwiegend aus Syrien, Irak und Afghanistan stammen, jeden Anspruch auf ein Asylverfahren entzogen. Das mussten schon die in Mytilini auf dem Schiff internierten Flüchtlinge erfahren: Als sie Asylanträge stellen wollten, wurde ihnen das glatt verwehrt.

Eine rechtswidrige Suspendierung des Asylrechts
Die Verweigerung eines von der EU explizit anerkannten Menschenrechts hatte nichts mit der Corona-Gefahr zu tun, die Anfang März noch nicht im Bewusstsein war. Die Athener Regierung berief sich vielmehr auf einen “Notstand” an der griechisch-türkischen Landgrenze, die seit Ende Februar von Tausenden Flüchtlingen “belagert” wurde. Am 1. März beschloss die Regierung Mitsotakis, das Recht auf ein Asylbegehren für einen Monat auszusetzen. Zur juristischen Begründung berief man sich auf EU-Recht, genauer auf Artikel 78/3 des “Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union” (AEUV), in dem es heißt: “Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.”

Wie auch für Nicht-Juristen erkennbar, erlaubt dieser Artikel keineswegs das unilaterale Vorgehen eines Mitgliedslandes, er soll im Gegenteil die kollektive Hilfeleistung für ein Land ermöglichen, das unverschuldet in eine Notlage gekommen ist. Und dies nur auf Beschluss des Rats (also eines EU-Gipfels) und auf Vorschlag der Kommission. Die einseitige Suspendierung des Asylrechts durch die Regierung Mitsotakis war also durch EU-Recht weder inhaltlich noch verfahrensmäßig gedeckt. (10) Abgesehen davon darf ein Menschenrecht ohnehin nicht außer Kraft gesetzt werden, wie die UNHCR in ihrer Kritik an dem griechische Vorgehen betonte: Selbst wenn Artikel 78/3 der AEUV eine einseitige Maßnahme durch einen Mitgliedsstaat erlauben würde, könne dieser “das international anerkannte Recht auf Asylersuchen” nicht suspendieren, das durch EU-Recht explizit geschützt sei.

Erdogan instrumentalisiert die Flüchtlinge
Diesen Schutz hat Griechenland aufgehoben, und zwar unter Berufung auf den notwendigen Schutz seiner Ostgrenze in Thrazien, die man durch den verstärkten Andrang von Flüchtlingen aus der Türkei unmittelbar bedroht sah. Dabei stellte die Athener Regierung die Lage an der Grenze als eine Art nicht-militärischen Angriff der Türkei dar, der nicht nur Griechenland, sondern auch der EU-Außengrenze gelte.

In der Tat steht es außer Zweifel, dass der „Flüchtlingsstrom“, der sich Ende Februar in Richtung Griechenland entwickelt hat, durch das Erdogan-Regime verstärkt, ja sogar erzeugt wurde. Es gibt zahlreiche Berichte (auch aus türkischen Medien) über ein regelrechtes Shuttle-System, mit dem in Istanbul lebende Flüchtlinge in Bussen nach Edirne gefahren wurden, von wo es nur noch zehn Kilometer bis zur Grenze sind.(11)

Die von Erdogan offiziell verkündete „Öffnung“ der türkischen Westgrenze war eine Reaktion auf die Situation im Norden Syriens, wo die Offensive der Assad-Truppen eine neue Flüchtlingswelle in Richtung Türkei ausgelöst hatte. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Erdogan mit dem Druck auf die EU-Außengrenze von den Europäern nicht nur eine verstärkte finanzielle Hilfe erzwingen wollte, sondern auch die politische Unterstützung für den Vormarsch der türkischen Armee in der Provinz Iblid. (12) Aber was immer die Politik Ankaras bestimmt hat – es taugt nicht als Alibi für die Athener Entscheidung, schutzbedürftigen Menschen, die es auf griechisches Territorium geschafft haben, das Recht aus Asylbewerbung zu verweigern. Damit hat die Regierung Mitsotakis, die der Türkei völkerrechtswidriges Verhalten vorwirft, selbst gegen internationales und EU-Recht verstoßen.

Dies ist ein düsteres Kapital, das in Griechenland bis heute tabu ist. Auch die oppositionelle Syriza hat den Rechtsbruch mit keinem Wort kritisiert. Jeder Konflikt mit der Türkei erzeugt einen enormen Konformitätsdruck, der offene Zweifel an der Regierung fast schon zum Landesverrat stempelt. Auch in diesem Fall hatte die politische Klasse ihre Reihen fest geschlossen.

Eine Stimme des Widerstands
Mit einer rühmlichen Ausnahme: Mania Telalian, die Leiterin der Rechtsabteilung des Außenministerium, wollte den Rechtsbruch nicht hinnehmen. Die ranghöchste Völkerrechtlerin der Regierung sprach sich entschieden gegen die Suspendierung des Asylrechts aus. Prompt wurde sie von Außenminister Nikos Dendias von ihrem Posten abberufen. (EfSyn vom 13. März 2020).

Öffentliche Kritik an der Regierung Mitsotakis kam nur von griechischen NGOs, die sich für Menschenrechte und speziell für die Rechte der Flüchtlinge engagieren. 59 Organisationen und lokale Initiativen schickten – zusammen mit 26 internationalen Organisationen, die im „European Council on Refugees and Exiles“ (ECRE) zusammengeschlossen sind, – einen Offenen Brief an Mitsotakis, in dem sie argumentierten: Flüchtlinge ohne die Möglichkeit eines Asylantrags in ihr Herkunfts- oder in ein Transitland zurückzuschicken, sei nicht nur „unmenschlich und illegal“, sondern verstoße auch gegen „das fundamentale Prinzip von non-refoulement“. Gemeint ist damit das völkerrechtliche Verbot der Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.(13)

Warum hat die EU den Rechtsbruch abgesegnet?
Der Offene Brief des ECRE war auch an die höchsten EU-Instanzen einschließlich Ursula von der Leyens adressiert. Damit stellt sich eine wichtige Frage: Wie konnte die EU den Rechtsverstoß der Athener Regierung hinnehmen, ja demonstrativ absegnen? Am 3. März hatte die Kommissionspräsidentin – zusammen mit Mitsotakis – aus einem Militärhubschrauber die Lage an der Evros-Grenze inspiziert. Danach bezeichnete sie Griechenland als „europäischen Schutzschild“, was nur heißen kann: als Schutz gegen die Bedrohung durch die Flüchtlingsflut. Mitsotakis war hochzufrieden und wertete den Auftritt von der Leyens als „wichtiges Zeichen der Unterstützung“ in einer Zeit, da „Griechenland erfolgreich die EU-Grenzen verteidigt“ (Kathimerini vom 3. März 2020).

Die höchste EU-Repräsentantin verlor damals kein Wort über die Suspendierung des Asylrechts, das die Griechen im Auftrag und mit personeller und finanzieller Hilfe der Union garantieren sollen. Warum? Der tiefere Grund ist natürlich ein „schlechtes Gewissen“, das die politischen Akteure auf EU-Ebene freilich nie eingestehen würden. Aber allen ist bewusst, dass die Union und ihre Mitgliedsstaaten die Griechen und die Italiener in der seit Jahren andauernden Flüchtlingskrise schmählich im Stich gelassen haben. Bekanntlich scheitert die dringend notwendige Entlastung dieser „Frontstaaten“ vor allem daran, dass die EU-Partner ihre Zusage, die an ihrer Peripherie strandenden Flüchtlinge angemessen zu verteilen, nie eingelöst haben.

Auch in einem anderen Punkt haben die Partner Griechenlands versagt. Sie haben es nie geschafft, „ein ordentliches und effektives Asylverfahren auf den griechischen Inseln zu etablieren“, wie sie es im Rahmen des Abkommens zwischen der EU und der Türkei vom 20. März 2016 zugesagt hatten, kritisiert der Experte Theo Rauch.(14) Für ihn steht fest, dass nicht nur die Griechen, sondern alle Europäer „die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern geschaffen“ haben. Die Situation auf Lesbos und an der Evros-Grenze ist für ihn „eine Bankrotterklärung der EU und damit auch der deutschen Migrationspolitik“.(15)

Die Hinnahme des griechischen Rechtsbruchs durch die EU-Spitze wurde erst durch die EU-Kommissarin Ylva Johansson korrigiert, als sie bei ihrem Besuch in Athen am 12. März erklärte: „Jedes Individuum in der Europäischen Union hat das Recht, Asyl zu beantragen. Dies steht im Vertrag, dies ist internationales Recht. Und das können wir nicht suspendieren.“

Menschenrechtsraub in 2000 Fällen
Allerdings ging die schwedische Kommissarin nicht so weit, die Athener Regierung explizit zurechtzuweisen.(16) Zwar begrüßte man es in Brüssel, als die griechische Regierung verkündete, sie werde die Suspendierung des Asylrechts zum 1. April wieder aufheben. Aber spätestens jetzt hätte die EU darauf dringen müssen, den etwa 2000 Migranten, die im März griechischen Boden erreicht haben, ihre Rechte zurückzugeben.

Genau das wird die Regierung Mitsotakis nicht tun. Sie erlaubt den zur Unzeit gestrandeten Menschen auch nachträglich keine Asylanträge (Kathimerini vom 31. März 2020). Die „März-Flüchtlinge“ wurden also nicht nur einen Monat hingehalten, sie wurden ihres wichtigsten Rechts endgültig beraubt. Entgegen des „non-refoulment“-Prinzips wird man sie ohne Chance auf ein Asylbegehren in einer geschlossenen KYT „verwahren“ und bis Ende 2020 in ihre Heimatländer abschieben (EfSyn vom 16. März). Inzwischen kann man sie auch nicht mehr Türkei zurückschicken, weil Erdogan ihre „Rücknahme“ verweigert – ausgerechnet mit Hinweis auf die Corona-Gefahr.(17)

Die Europäische Union lässt der griechischen Regierung nicht nur diesen Betrug an 2000 Menschen durchgehen. Auch zwei weiteren Rechtsfragen wagt die EU-Kommission nicht zu thematisieren. Die erste betrifft die Legalität des Frontex-Einsatzes an der griechisch-türkischen Grenze. Die „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“ ist nach Artikel 84 ihrer Einsatzregeln vom 10. November 2019 (die von der EU-Kommission wie vom Europäischen Parlament verabschiedet wurden), auf die Grundsätze des EU-Rechts und des Völkerrechts verpflichtet. Die aber werden verletzt, wenn ein Migrant kein Asyl beantragen kann. Deshalb haben die Frontex-Einsätze während des Krisenmonats März als illegal zu gelten, argumentiert der dänische Experte Thomas Gammeltoft-Hansen: „Die griechische Entscheidung, das Asylrecht zu suspendieren, zieht im Grunde die Decke weg, auf der das ganze Kartenhaus der Frontex-Operationen errichtet ist.“(18)

Völkerrechtswidrige Push-back-Praktiken
Noch gravierender ist ein zweiter Punkt, den weder die Kommission noch eines der EU-Länder je thematisiert hat: die illegalen „Push-back“-Aktionen, die den griechischen Grenzsicherungsorganen schon seit 2016 vorgeworfen werden. Auf diesem Blog erschien am 22. Juni 2017 ein Text, in dem ich diesem Vorwurf nachgegangen bin. Damals waren die Opfer türkische Oppositionelle, die der Hexenjagd nach dem sogenannten Gülen-Putsch vom Sommer 2016 über die Evros-Grenze nach Griechenland entkommen konnten. Dann aber wurden sie auf dem griechischen Ufer von vermummten Männern abgefangen und über den Fluss zurück verfrachtet.

Auch die Tsipras-Regierung hat diesen Sachverhalte damals verschleiert und die Vorwürfe nie untersucht. Doch in der Flüchtlingskrise im Februar und März dieses Jahres waren die Push-back-Aktionen nicht zu verheimlichen. In Erwartung einer dramatischen Zuspitzung der Lage waren einfach zu viele Reporter auf der griechischen Seite der Evros-Grenze unterwegs, darunter auch ein Journalisten-Team der New York Times. Dessen Bericht erschien am 10. März unter dem Titel „Inside Greece‘s Secret Site for Migrants“, in dem die griechische Regierung beschuldigt wurde, „festgenommene Migranten an geheimen außergerichtlichen Orten festzuhalten, bevor sie sie ohne rechtliches Verfahren in die Türkei zurückgeschickt werden.“ In dem Bericht werden diese illegalen Pushback-Praktiken ausführlich belegt: durch Recherchen beiderseits der Grenze, durch Satellitenfotos der geheimen „außergerichtlichen Zentren“ und durch Interviews mit Flüchtlingen, die glaubwürdig schildern, wie sie vom griechischem Evros-Ufer mit „kleinen Schnellbooten“ auf türkisches Territorium zurück verfrachtet wurden. (19) Nach dem NYT-Bericht haben Vertreter der Mitsotakis-Regierung einen Kommentar zur Existenz der „secret extrajucicial centers“ verweigert und lediglich erklärt, dass Griechenland die Migranten „nach einheimischem Recht festnehme und ausweise“.

Geheime Lager – ein „offenes Geheimnis“
Auch der griechische Journalist Alexandros Stamatiou verifizierte die Existenz geheimer Internierungszentren, die freilich unter den Einheimischen ein „offenes Geheimnis“ seien. In der EfSyn vom 15. März schilderte er einen Gebäudekomplex in der Nähe des Dorfes Neo Cheimonio. Auch beobachtete er, wie auf der Straße festgenommene Migranten in weißen Lieferwagen ohne Nummernschilder abtransportiert wurden. Stamatiou fasste seine Eindrücke von den „Kriegsspielen“ an der Evros-Grenze so zusammen: Griechische Polizisten und Soldaten – aber auch ausländische Frontex-Kräfte wie das österreichische „Einsatzkommando Cobra“ – würden im Hinterland der Grenze so agieren, „als müssten sie einen Feind besiegen“. Aber ohne den Feind zu benennen: „Sind es die Türken? Sind es die Flüchtlinge? Oder alle zusammen? Wenn man sie fragt, hat niemand eine klare Antwort.“ Klar ist nur, dass sie „Flüchtlinge und Migranten festnehmen, in geschlossene Festnahmezentren bringen, ihnen das Recht verweigern, Asyl zu beantragen, und sie nachts in den Transportern ohne Nummernschilder wieder zur türkischen Grenze schaffen…“

Welche Botschaft die griechische Regierung mit ihrer „aggressive Abwehrstrategie“ an der Evros-Grenze aussenden wollte, hat Regierungschef Kyriakos Mitsotakis nachträglich in einem Interview mit der Kathimerini (vom 19. April) offen ausgesprochen: Anfang März habe man bewiesen, „dass wir unsere Grenzen bewachen können, mit absolutem Respekt für menschliches Leben“. Von Respekt für Menschenrecht spricht Mitsotakis nicht, aber dann sagt er stolz: „Die Botschaft wurde von allen verstanden, besonders von der Türkei, aber auch von den Flüchtlingen und Migranten, die sich jetzt länger überlegen werden, ob es sich lohnt, auf ein Boot zu steigen um zu versuchen, eine Ägäisinsel zu erreichen.“

Damit beschreibt der griechische Regierungschef nichts anderes als eine Abschreckungs-Strategie gegen Flüchtlinge, geduldet von einer Europäischen Union, die seit Jahren die schrecklichen Verhältnisse in Moria auch deshalb hinnimmt, weil sie abschreckend wirken.

Der Kampf gegen das Virus an der Migrantenfront
Es ist kein Zufall, dass die Angst vor der Flüchtlingswelle dieselbe Phantasie auslöst wie die Angst vor der Pandemie – die schützende Mauer. Was die Abwehr der Migranten betrifft, so kursiert in Griechenland nicht nur in rechtsradikalen, sondern auch in militärischen und sogar in Regierungskreisen die Idee von einer Mauer: sei es als Verstärkung des längst bestehenden Grenzzauns, sei es als „boat barrier“ zwischen den griechischen Inseln und der Türkei.(20) Was die Corona-Bedrohung betrifft, so fragt ein Kommentator in der Kathimerini (vom 8. April): „Welche Mauer wird die Bevölkerung von Lesbos, Chios und Samos schützen, wenn das Virus auftaucht?“ Was er damit meint, ist der Schutz vor den Migranten, die nicht nur auf den Inseln, sondern auch im Zentrum von Athen unter Bedingungen leben, an denen der Kampf gegen den Coronavirus scheitern müsse.(21)

Die Migranten als potentieller „innerer Feind“. Wenn keine durchgreifenden Maßnahmen zum Schutz der Flüchtlinge und Asylsuchenden auf griechischem Boden ergriffen werden, dürfte sich am Ende jene antagonistische Sichtweise durchsetzen, die Anfang dieses Jahres bereits bei Demonstrationen in Lesbos, Chios und Samos artikuliert wurde: „Wenn das Vaterland in Gefahr ist“, rief der Präfekt der Region Nord-Ägäis in Mytilini einer großen Menschenmenge zu, „dann interessiert uns nicht, was die Verträge sagen“. Der Mann meinte damit das humanitäre Völkerrecht und die von der EU garantierten Menschenrechte für Flüchtlinge, die nicht nur „suspendiert“, sondern abgeschafft werden, wenn die Gesellschaft eine unerwünschten Gruppe nur noch als Feind und als Bedrohung wahrnimmt. Statt sie als besonders gefährdete und schutzbedürftige Gruppe zu sehen, wie es der Leiter des griechischen Krisenstabs Sotiris Tsiodras in Bezug auf die Bewohner einer Roma-Siedlung in Larissa gesagt hat (siehe Teil 1 dieses Textes).

Ein Rettungsplan?
Die extreme Gefährdung der Flüchtlinge in den Hotspots auf den Inseln hat ein internationaler Experte mit den Worten beschworen: „Wenn wir in Lesbos keine Katastrophe erleben, werden wir schieres Glück gehabt haben.“ Dieser Satz wird im Newsletter der NGO European Stability Initiative (ESI) vom 2. April zitiert und von ESI-Gründer Gerald Knaus mit den Worten kommentiert: „Das also ist die schreckliche Politik der Europäer in der Ägäis im April 2020: sich auf das Glück verlassen – angesichts einer vermeidbaren Katastrophe.“ (https://www.esiweb.org/pdf/ESI)

Damit wir alle – in ganz Europa – nicht auf das Glück angewiesen sind, entwirft Knaus einen Rettungsplan, den ich hier abschließend zitiere (ohne Kommentar und ohne die verzweifelte Frage nach den Chancen der Umsetzbarkeit zu stellen).

„Um dieser Krise zu begegnen, müssen unverzüglich drei Dinge getan werden. Erstens muss Griechenland seinen europäischen Partnern und den internationalen Organisationen einen Plan präsentieren, wie man die Inseln durch Evakuierung entlasten kann. Die Zahl der Migranten auf den Inseln muss auf die tragbare Dimension von wenigen Tausend reduziert werden. Zweitens müssen die EU und die Türkei eine neue Vereinbarung erreichen. Griechenland kann die irreguläre Migration über die Ägäis nur in Kooperation mit der Türkei reduzieren; und europäische Hilfe für die vielen Millionen Flüchtlinge in der Türkei – das sind mehr als Berlin Einwohner hat – liegt im Interesse der EU. Drittens muss Griechenland von anderen EU-Ländern, darunter Deutschland, geholfen werden, indem man anbietet, sofort 10 000 anerkannte Flüchtlinge vom griechischen Festland aufzunehmen.“

Anmerkungen
1) Die ursprüngliche Planung der KYT sah moderne, großzügige Einrichtungen vor, die den Flüchtlingen und Asylbewerbern eine anständige Unterbringung, medizinische und psychologische Versorgung und juristische Beratung bieten sollten, zudem sollten “verletztliche Gruppen wie unbegleitete Kinder” eine besondere Betreuung erhalten. Eine Beschreibung dieser idyllischen Verhältnisse auf der Website der griechischen Regierung: https://www.firstreception.gov.gr/content.php?lang=en&id=14&pid=9

2) Der Plan ist nach der ersten Ärztin im alten Athen benannt, die im 3. Jahrhundert v. Chr. als Geburtshelferin praktiziert haben soll.

3) Siehe die website real.gr vom 4. April und EfSyn vom 9. und 10. April 2020. Details des Plans Agnodike wurden auf SPIEGEL-online (vom 16.04.) veröffentlicht. Demnach wird in Ritsona und Malakasa die zweite Stufe des Notfallplans umgesetzt, der bei weiterer Ausbreitung des Virus eine teilweise Evakuierung der Lager vorsieht.

4) Die Details über den Corona-Fall Ritsona aus Berichten in den Zeitungen EfSyn und Kathimerini zwischen dem 2. und dem 10. April 2020.

5) So behauptete Mitsotakis “wider besseres Wissen, dass die Flüchtlinge das Coronavirus ins Land bringen würden”. Siehe den Bericht von Wassilis Aswestopoulos in Jungle World vom 5. März 2020 (https://jungle.world/artikel/2020/10/die-orbanisierung-des-kyriakos-m). So auch die Kritik seitens Syriza an der Regierung und an Mitsotakis persönlich (EfSyn vom 10. April 2020).

6) Auch Ylva Johansson, die EU-Kommissarin für Inneres, forderte in einem Brief an die griechische Regierung, die Massenlager auf den Inseln so weit zu entlasten, dass die Behörden mit einem „möglichen Ausbruch der hochinfektiösen Krankheit“ fertig werden könnten. Sie befürwortete die Unterbringung in Hotels, die von der EU zu finanzieren wäre (Kathimerini vom 6. April 2020).

7) Einen eindrucksvollen persönlichen Bericht über die Zustände in Moria gibt Claus Kittsteiner, der dort mit dem Team „Volunteers for Lesbos“ tätig war. Nachzulesen auf der Website der Berliner Organisation „Respekt für Griechenland“, die diese Initiative finanziell trägt (zu finden über: http://respekt-für-griechenland.de/?p=3326); siehe auch: „In der Falle von Moria“ von Yiannis Papadopoulos, in Le Monde diplomatique vom Februar 2020; auf diesem Blog habe ich im September 2016 in meinem Text über „die Wutbürger von Lesbos“ beschrieben, wie es in den Insellagern bereits vor der Überfüllung aussah (https://monde-diplomatique.de/shop_content.php?coID=100081).

8) Stand von Ende März 2020; siehe dazu den Newsletter der European Stability Initiative vom 2. April 2020 (https://www.esiweb.org/newsletter/mitsotakis-plan-who-needs-act), siehe auch meinen Text „Mitsotakis setzt auf Abschottung“, LMd vom Februar 2020.

9) Mike Davis weist darauf hin, dass die Wirkung des Virus auf jüngere Alterskohorten „in armen Ländern und unter extrem armen Gruppen radikal anders“ ausfallen könnte als angenommen. Siehe seinen Text „The Monster“, in: New Left Review, March/April 2020.

10) Nach der Interpretation des Artikels durch die EU-Kommission (vom 27. Mai 2015) ist das griechische Vorgehen noch aus einem weiteren Grund rechtswidrig. Hier heißt es, die besondere Notlage müsse ausgelöst sein, durch einen „beständig hohen Zustrom von Migranten“ und „insbesondere von solchen, die eindeutig auf internationalen Schutz angewiesen sind“. Die Notstandsmaßnahme soll also gerade den Flüchtlingen zugute kommen, die auf das Asylrecht besonders dringend angewiesen sind.

11) Nach einem Bericht auf SPIEGEL-online vom 27. März 2020 hat auch der BND Erkenntnisse über den organisierten Andrang auf die türkisch-griechische Grenze gewonnen.

12) Dass der Zustrom neuer Flüchtlinge aus Nordsyrien für die Türkei ein echtes Problem darstellt, zeigt Günter Seufert in seiner Analyse „Die Lektion von Idlib“ in LMd vom April 2020.

13) Der englische Brief trägt den Titel „Protect our Laws and Humanity“ (siehe: https://www.ecre.org/joint-statement-protect-our-laws-and-humanity/) Dieselbe rechtliche Einschätzung vertritt Alberto Alemanno, der EU-Recht an der HEC Paris lehrt. In seinen Augen ist das griechische Vorgehen “ein offensichtlicher Bruch des europäischen Asylrechts und des humanitären Völkerrechts” (Euronews vom 11. März 2020).

14) Von den 2016 zugesagten 400 Fachkräften zur Bearbeitung der Asylanträge in den Insel-Hotspots ist ein Großteil nie eingetroffen. Erst in der jüngsten Krise hat die EU zugesagt, bis Ende 2020 weitere 500 Kräfte zu entsenden. Zur Bewertung der EU-Vereinbarung mit der Türkei siehe meinen Text „Eine Krise zu viel“ vom 28. März 2016.

15) Theo Rauch, Ausweg aus dem Flüchtlingsdilemma, IPG-Journal vom 24. März 2020 (https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/ausweg-aus-dem-fluechtlingsdilemma-4185/)

16) Johansson merkte lediglich an, die Kommission würde die Suspendierung des Asylrechts nicht empfehlen. Von der Leyen, die am 12. März auch nach Athen fahren wollte, sagte die Reise ab, was ihr ersparte, die vorsichtige Distanzierung ihrer Kollegin Johansson zu kommentieren. Alle Zitate nach einem Bericht in The Guardian vom 12. März 2020.

17) Zum Stand der Diskussionen über eine „Erneuerung“ des Abkommens zwischen der EU und der Türkei siehe den in Anm. 8 genannten ESI-Newsletter vom 2. April 2020.

18) Euronews vom 11. März 2020. Der dänische Professor für Migration und Flüchtlingsrecht sieht dabei eine klare Mitverantwortung der Staaten, die Kontingente für die Frontex-Mission abgestellt haben, also auch von Deutschland.

19) „We are like Animals – Inside Greece’s Secret Site for Migrants”, New York Times vom 10. März 2020. Die NYT-Reporter berichten auch, dass die türkischen Behörden “seit Ende Februar Tausende Migranten an die griechisch-türkische Grenze transportiert und einige von ihnen ermutigt haben, den Grenzzaun zu attackieren und niederzureissen”.

20) Zum ersten Grenzzaun in der Evros-Region siehe: Yiannis Papadopoulos, “Schengenzaun”, LMd vom Februar 2011 (https://monde-diplomatique.de/artikel/!328403); zum Plan der “boat barrier” siehe Niels Kadritzke, “Mitsotakis setzt auf Abschottung”, LMd vom Februar 2020.

21) Die Parallele zwischen “Flüchtlingsabwehr” an der Grenze und Kampf an der Corona-Front ist in der griechischen Medienlandschaft längst zu einem Allgemeinplatz geworden. Als ein Beispiel von vielen sei ein Kommentar in der Kathimerini vom 19. April zitiert, der es sogar in die englische Ausgabe geschafft hat: “Last month, Greece held firm when its defenses were put to the test by thousands of migrants attempting to cross its land and sea borders from Turkey. So far it is also persevering as its health defenses are put to the test by the Covid-19 pandemic…”