Feature über Griechenland, den Euro, Vorurteile und das Spardiktat

 Der Geldbote von Amorgos

von Michalis Pantelouris | Quelle: Die Zeit 18. 7. 2015 (Nr. 29/2015)

Es war, als hätte eine höhere Macht nicht gewollt, dass der Euro diese kleine Insel erreicht. Im Dezember 2001 kam ein Sturm auf und fegte so ausdauernd über die Ägäis, dass es schien, die See werde sich nie beruhigen. Europas neue Währung sollte mit der wöchentlichen Fähre nach Amorgos kommen, auf die östlichste Insel der Kykladen. Aber jetzt konnten die Schiffe nicht fahren. Es war der härteste Winter seit Jahrzehnten, und auf Amorgos sahen die meisten Menschen zum ersten Mal im Leben Schnee.

Amorgos hat 2.000 Einwohner. Sechs Gemeinden. Drei Bankautomaten. Eine Bankfiliale, aber die war damals, vor mehr als 13 Jahren, noch nicht so wichtig wie heute. Fast niemand hatte ein Bankkonto, wozu auch? Man bekam sein Gehalt in bar und zahlte in bar. Höchstens ein Postsparbuch besaßen einige. Die Menschen erledigten ihre wenigen finanziellen Dinge bei Michalis Fostieris, dem Postboten.

Er war es, der den Euro in die Dörfer von Amorgos brachte, als die neuen Scheine und Münzen endlich auf die Insel kamen, die meisten im letzten Moment der Übergangsfrist, Ende Februar 2002.

Ich habe Michalis Fostieris damals eine Woche lang begleitet und eine Reportage geschrieben über die Ablösung der Drachme, der ältesten Währung der Welt. In seinem kleinen weißen Lieferwagen fuhren wir über die einzige Inselstraße. Manchmal ließen wir den Wagen stehen und gingen auf einem Geröllweg eine Viertelstunde zu Fuß zu einem Bauernhaus. Auf Treppenstufen, Holzbänken und Gartenmauern tauschte Michalis Fostieris Drachmen in Euro um. Ich sah, wie er das neue Geld auf der Insel verteilte und das alte einsammelte, und ich erlebte, wie er den Menschen die Angst nahm. Neues erzeugt meistens Angst, und der Umrechnungskurs von 340,75 Drachmen zu einem Euro machte den Alltag plötzlich schwer berechenbar. Manche Menschen glaubten, ihre Ersparnisse seien über Nacht zusammengeschrumpft, zu einer Summe, die klein genug war, um Kommastellen wichtig zu nehmen.

Doch mit dem Euro kam auch ein unbekanntes Gefühl nach Amorgos: das Gefühl, zu Europa zu gehören. Damals hatte Griechenland noch keine Landgrenze mit einem anderen Staat der Europäischen Union. Wer auf Amorgos „Europa“ sagte, der meinte das im Unterschied zu „hier“.

„Kommst du jetzt, weil der Euro wieder geht?“, fragt Michalis Fostieris, als ich nun, im Juli 2015, wieder in seinem Postamt stehe, und dann lacht er, aber nur ein bisschen, weil es lustig ist und traurig zugleich. Er ist jetzt 53 Jahre alt, sein Haar ist grauer und ein bisschen dünner als damals, aber ansonsten hat er sich nicht sehr verändert.

„Ich bin hier, um zu sehen, wie es euch ergeht“, antworte ich, aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn ich bin nicht nur wegen Michalis Fostieris hier, sondern auch meinetwegen. Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, in Deutschland zu sitzen und der ewigen Griechenland-Debatte zuzuhören, die immer und immer wieder um dieselben Klischees kreist. Die griechischen Schulden. Die deutschen Steuern. Der betrügerische Tsipras. Die hartherzige Merkel. Das korrupte Griechenland. Das effiziente Deutschland.

Deshalb bin ich hier. Weil ich gleichzeitig wütend und traurig bin und weil ich mich schäme. Für die Griechen, die demokratisch gewählte deutsche Politiker als Nazis beleidigen, und für die Deutschen, die nicht aufhören, von den reformunwilligen, verschwenderischen Griechen zu reden.

Ich bin der Sohn einer Deutschen und eines Griechen. Meine Großväter haben Krieg gegeneinander geführt. Der deutsche fuhr als überzeugter Nazi im Zweiten Weltkrieg auf einem Minensuchboot durch die Ägäis. Der griechische war Dorflehrer auf der Insel Euböa. Die deutschen Besatzer haben ihn verhört und gefoltert, weil seine älteren Kinder Partisanen waren und die Besatzer ihn offenbar für den Spiritus Rector des örtlichen Widerstands hielten (ich weiß nicht, ob zu Recht).

Wenige Jahre nach Kriegsende schickte mein griechischer Großvater meinen 1945 geborenen Vater auf die Deutsche Schule in Athen – weil Deutschland für ihn das Land von Goethe war. Er war der Meinung, dass ihn nicht die Deutschen gefoltert hatten, sondern die Nazis. Als sich 1967 die faschistische Obristen-Junta in Griechenland an die Macht putschte, ging mein Vater nach Deutschland ins Exil, lernte meine Mutter kennen und gründete eine Familie. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, aber in fast jedem Jahr meines Lebens in Griechenland gewesen.

Die kleine Insel Amorgos ist weit weg von der Hauptstadt. Selbst im Sommer, wenn die schnellen Schiffe fahren, braucht man beinahe acht Stunden von Piräus, dem Hafen Athens, bis hierher. Amorgos ist anders als die honigsüßen Inselparadiese Santorin und Mykonos, Amorgos ist wild, eine karge, ruppige Schönheit. Die Insel ist berühmt für ihre Kräuter, eine bestimmte Art von Minze wächst nur hier. Urlauber nennen so einen Ort einen „Geheimtipp“. Einmal, Ende der Achtziger, wurde die Welt ein bisschen aufmerksam auf Amorgos, weil der französische Regisseur Luc Besson hier Im Rausch der Tiefe drehte, einen Tauchfilm. Auch schon wieder lange her.

Hier lebten bis vor Kurzem nur Fans der Europäischen Union. Die EU bezuschusste die wöchentliche Fähre. Die Straße, die quer über die Insel führt, wurde mit europäischer Hilfe asphaltiert, und eine moderne Müllverbrennungsanlage gibt es auch. Amorgos entwickelte sich, und das Geld dafür kam aus Brüssel, von der EU, vor allem aber kam es aus Athen, vom griechischen Staat. Es kam auch zu Michalis Fostieris, dem Briefträger, der seit 20 Jahren mit seinem Auto über diese Insel rollt und die Post einsammelt und ausfährt, der hier nicht nur jeden Menschen, sondern auch jeden Stein und jede Ziege kennt. Auch er wird vom Staat bezahlt.

Damit bin ich schon bei einem dieser Schlagwörter, an denen sich der Streit um Griechenland immer wieder neu entzündet: dem griechischen Staatsapparat. Wahrscheinlich steht für jeden Griechen, ob er auf Amorgos lebt, in Athen oder anderswo, außer Frage, dass das Land zutiefst reformbedürftig ist. Die griechische Verwaltung: ineffizient. Das Steuersystem: unproduktiv. Das Rentensystem: chaotisch. Das Gesundheitssystem: erbärmlich.

Allerdings, das finde ich interessant, waren all diese Probleme lange bekannt. Jeder Grieche wusste davon, und jeder Manager einer deutschen, französischen, britischen oder amerikanischen Bank, die dem griechischen Staat in den ersten Jahren nach der Euro-Einführung Geld lieh, wusste auch davon, oder zumindest hätte er davon wissen können. Auch die Regierungschefs der übrigen Euro-Länder müssen diese Probleme gekannt haben. Offenbar haben sie sich nicht weiter daran gestört. Warum auch? Die Wirtschaft wuchs in Griechenland in den Jahren von 2002 bis 2007 stärker als in den übrigen Euro-Ländern, viel stärker als in Deutschland. Es reisten viele Touristen nach Amorgos in jenen Jahren, vor allem Griechen vom Festland, aus den Städten. Mit ihnen gelangte der Wohlstand auf die Insel.

Schon im Jahr 2002, als der Euro nach Amorgos kam, war die Staatsschuldenquote in Griechenland so hoch wie in wenigen anderen EU-Ländern. Aber das rührte vor allem aus den achtziger Jahren her, sie war jahrelang kaum gestiegen. Griechenland hatte damals eine geringere Schuldenquote als Belgien, und die Belgier bekamen auch Geld von den Banken. Man kann noch heute in wirtschaftswissenschaftlichen Berichten nachlesen, dass Griechenland in den ersten Jahren des Euro ein prosperierendes Land war. „Ökonomen und Analysten sind optimistisch, dass Griechenland weiter stark wachsen wird“, fasste es die Londoner Times im Jahr 2007 zusammen.

Dann aber, am 28. November 2008, unterzeichnete der damalige griechische Präsident Karolos Papoulias ein Gesetz, das die griechischen Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in die Höhe schießen ließ. Das Gesetz trug die Nummer 3723, und es bedeutete nichts anderes als ein gigantisches Geldausgabeprogramm: Der griechische Staat verteilte auf einen Schlag 28 Milliarden Euro!

Dieses Geld kam nicht den griechischen Rentnern zugute. Auch nicht den griechischen Inseln oder den griechischen Beamten. Der Postbote Michalis Fostieris hat nichts von diesem Geld gesehen. Was er gesehen hat, damals im Herbst 2008, waren Bilder aus Amerika, wo im September eine Bank namens Lehman Brothers pleitegegangen war. Das Fernsehen zeigte einfache Menschen, die in amerikanischen Städten auf den Straßen standen, Kellner, Putzhilfen, auch Postboten wie Fostieris, die aus ihren Häusern ausziehen mussten, weil sie ihre Schulden nicht mehr zahlen konnten. Die Kommentatoren erzählten, dass hier gerade eine Art globales Kettenbriefgeschäft zu Ende gegangen war, dass große Banken über Jahre viel Geld damit verdient hatten, Immobilienkredite an Menschen zu vergeben, die sich eigentlich keine Häuser leisten konnten. Die Kreditpapiere verkauften sie weiter an andere Banken, bis das ganze Spiel zusammenbrach, bis weltweit Banken vor dem Konkurs standen und sich die meisten Industriestaaten, auch Deutschland und Frankreich, auch Großbritannien und die USA, nicht anders zu helfen wussten, als sich Geld zu leihen, um ihre Banken zu retten.

Auch das griechische Gesetz Nummer 3723 war ein Bankenrettungsprogramm. Die griechische Regierung lieh sich Geld, unter anderem bei deutschen und französischen Banken, um damit griechische Finanzinstitute zu sanieren. Es war nicht so, dass sich die griechische Regierung zuvor gescheut hatte, Kredite aufzunehmen, im Gegenteil, aber erst durch die Finanzkrise erreichte die Schuldenquote den gefährlichen Bereich.

Seit meiner Kindheit habe ich deutsche Zeitungen gelesen. Ich hatte immer das Gefühl, dass das, was ich las, im Großen und Ganzen die Realität abbildete. Als jedoch im Herbst 2009 die griechische Regierung einräumen musste, dass das Haushaltsdefizit weit höher war als angenommen, und als sich abzeichnete, dass das Land praktisch pleite war, geschah etwas Seltsames: Die Europäische Union, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds, die sogenannte Troika, liehen den Griechen Geld, damit diese ihre Schulden bei den Banken bezahlen konnten. Die Banken bekamen also ihr Geld wieder, doch die Griechen hatten jetzt immer noch Schulden, allerdings nicht mehr bei den Banken, sondern bei der Troika.

Die deutschen Zeitungen aber schrieben damals nicht davon, dass die Finanzkrise Griechenland an den Rand der Pleite gebracht hatte. Sie beschäftigten sich nicht mit den Banken, sie beschäftigten sich mit den Griechen.

Reporter fuhren los und machten wenig überraschende Entdeckungen. Die griechische Verwaltung: ineffizient. Das Steuersystem: unproduktiv. Das Rentensystem: chaotisch. Das Gesundheitssystem: erbärmlich.

Ich las die Zeitungen und konnte es nicht glauben: Das alles wussten wir längst. Nichts daran war neu. Nur hatte sich außerhalb Griechenlands kaum jemand darum gekümmert.

In Deutschland aber wurde es auf einmal populär, ein Spottlied anzustimmen, das bis heute wieder und wieder gesungen wird, in einem einzigen, endlosen Kanon.

„Schurken, Strand und Schulden – Griechenland ist jetzt das kreditunwürdigste Land der Welt“, schrieb der stern.
„Der Euro ist kein Geschenk der Götter“, formulierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Der griechische Staatsapparat sei „grotesk aufgebläht“, hieß es in der Leipziger Volkszeitung.
„Luxusrenten!“ entdeckte die Bild-Zeitung.

In der Realität betrug das mittlere Einkommen in Griechenland vor Beginn der Krise 997 Euro, bei Lebenshaltungskosten, die ähnlich hoch sind wie in Deutschland (die Mieten sind in Griechenland niedriger, Lebensmittel sind teurer). Heute beträgt das mittlere Einkommen nur noch 640 Euro, aber darauf komme ich noch. Die griechische Staatsquote, also der Anteil der staatlichen Aktivitäten an der Gesamtwirtschaft, lag bei rund 45 Prozent und war also ebenfalls mit der deutschen vergleichbar. Die gesamten Rentenzahlungen lagen bei zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung, was nicht wenig ist, aber angesichts der Tatsache, dass es in Griechenland praktisch keine andere Form der sozialen Grundsicherung gibt, auch nicht viel. Wer in Griechenland arbeitslos wird, bekommt im besten Fall zwölf Monate lang 360 Euro, danach bekommt er nichts mehr. Gar nichts. Ich würde sagen, in Deutschland ist die soziale Hängematte um einiges bequemer.

Jeden Morgen um acht Uhr sperrt Michalis Fostieris sein kleines Postamt auf. Er setzt sich an den Schalter, an der Wand über seinem Kopf hängt eine Ikone von Sankt Zenon, dem Schutzheiligen der Postleute. Es gibt noch einen zweiten Schalter im Postamt, doch der ist geschlossen, seit Jahren schon. „Früher hatte ich Aushilfen, wenn zu viel zu tun war, aber dafür ist kein Geld mehr da“, sagt Fostieris.

So wie im Winter 2002 verwandelt sich Michalis Fostieris in diesen Tagen wieder zum Ansprechpartner für finanzielle Angelegenheiten. Damals gab es in den Dörfern plötzlich keine Geheimnisse mehr ums Geld, weil jeder seine Ersparnisse beim Postboten tauschte. Heute drängen sich die Menschen im Postamt, diskutieren, suchen Rat, füllen Formulare aus.

Im Land geht das Gerücht um, alle Bankeinlagen über 8.000 Euro könnten vom Staat enteignet werden. Nun wollen auf einmal alle ihre ausstehenden Rechnungen bezahlen, um ihren Kontostand unter diese Grenze zu drücken. Aber alle Banken in Griechenland sind geschlossen – nur bei Michalis Fostieris können die Bewohner von Amorgos ihre Überweisungen erledigen. Sechs Euro müssen sie für jede Transaktion bezahlen, Krisengebühren. So kommt es, dass jetzt, während keiner Geld zu haben scheint, der kleine Postsafe prall gefüllt ist mit Euro-Münzen.

Am frühen Abend sperrt Fostieris die Post zu und geht hinüber zu seinem schmalen Haus, er zieht sich einen Overall über und arbeitet weiter. Seine Frau betreibt eine kleine Autovermietung, und Fostieris ist ihr Mitarbeiter, immer wenn die Post geschlossen hat. Er sortiert Rechnungen, beantwortet E-Mails, wäscht die Fiat Pandas. Das ist sein Zweitjob. Als Drittjob befüllt und wartet er die Feuerlöscher auf der Insel. Die kleine Taverne, seinen vierten Job, hat er inzwischen aufgegeben, sie lohnte sich nicht mehr, aber im fünften Job ist er Imker, sein Vater hat ihm ein paar Bienenstöcke vererbt.

Es ist nicht ganz einfach, Fostieris’ Arbeitsstunden zu zählen, weil in seinem Leben der Alltag und die Arbeit schwer voneinander zu trennen sind, eigentlich arbeitet er fast immer irgendwie. Natürlich sollte man nicht von einem Einzelfall auf die Gesamtgesellschaft schließen, aber das muss man auch gar nicht. Denn um ein Land als Ganzes zu beurteilen, gibt es zum Beispiel die Statistiken der Industrieländer-Organisation OECD. Nach deren Berechnungen arbeitet der durchschnittliche Grieche 2.042 Stunden im Jahr und der durchschnittliche Deutsche 1.371 Stunden. Diese Zahlen hielten allerdings die deutschen Zeitungen nicht davon ab, zu schreiben, die Griechen seien faul.

Sie hinderten auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht daran, auf einer Parteiveranstaltung zu sagen, die Griechen sollten länger arbeiten und weniger Urlaub machen. Das war im Mai 2011, ziemlich genau ein Jahr nach dem ersten Memorandum.

Memorandum of Economic and Financial Policies – so lautet der Titel des zweiten und entscheidenden Teils eines 90 Seiten starken Dokuments. Darin sind die Bedingungen festgeschrieben, die Griechenland zu erfüllen habe, um von der Troika aus EU, EZB und IWF Geld geliehen zu bekommen. Insgesamt 110 Milliarden Euro, das sogenannte erste Hilfspaket. Wir retten euch vor der Pleite, aber dafür müsst ihr euer Land verändern, damit ihr uns eure Schulden auch zurückzahlen könnt: Das war der Deal.

Gut, wenn man jemandem Geld leiht, will man sichergehen, dass man es wiederbekommt. Ich fand es damals allerdings ein wenig merkwürdig, dass Deutschland und Frankreich wenige Jahre zuvor, nach der Pleite von Lehman Brothers, ihren vom Bankrott bedrohten Banken weit mehr Geld geliehen hatten, ohne ihnen dafür irgendwelche Verhaltensänderungen aufzuerlegen.

Von der griechischen Regierung verlangte die Troika viel. Sie forderte harte Einschnitte bei den Renten, den Löhnen im öffentlichen Dienst und anderen Staatsausgaben, außerdem die rasche Privatisierung von Staatseigentum und die Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Die Sparmaßnahmen, das war die Vorhersage, würden die Krise für kurze Zeit verschlimmern, danach aber das Wirtschaftswachstum zurückbringen und es den Griechen ermöglichen, ihre Schulden zurückzuzahlen.

Noch etwas anderes fand ich merkwürdig. Die deutsche Bundesregierung hatte wenige Jahre zuvor im eigenen Land einen anderen Weg eingeschlagen. Die Finanzkrise hatte ja auch in Deutschland eine Rezession ausgelöst, auch in Deutschland stieg die Schuldenquote. Die Bundesregierung aber reagierte darauf keineswegs mit Kürzungen. Im Gegenteil, sie verlängerte das Kurzarbeitergeld für unterbeschäftigte Arbeitnehmer, sie bezahlte eine „Abwrackprämie“ dafür, dass die Leute alte, aber verkehrstüchtige Autos verschrotteten und neue Autos kauften, sie spendierte jeder Familie eine Einmalzahlung von 100 Euro für jedes Kind. Auf diese Weise kam Deutschland gut durch die Krise. Die Wirtschaft wuchs wieder, und die Regierung konnte anfangen, ihre Schulden zurückzuzahlen.

Die Griechen bekamen nun eine eher gegensätzliche Strategie verschrieben, aber okay, jedes Land ist anders, und die Prognosen waren ja eindeutig: Im Jahr 2011 werde die griechische Wirtschaft zwar ein wenig schrumpfen, aber danach schnell wieder wachsen. Das war die Rechnung der Geldgeber.

Diese Rechnung war falsch. Die Griechen senkten ihre Staatsausgaben, wie man es ihnen aufgetragen hatte, aber ihre Wirtschaft wuchs nicht, sie schrumpfte, und zwar gewaltig. Jahr für Jahr sagte die EU-Kommission aufs Neue ein baldiges Wachstum voraus, doch die griechische Volkswirtschaft schrumpfte weiter.

Angela Merkel hat einmal gesagt, man müsse, wenn es um Wirtschaft gehe, auf die schwäbische Hausfrau hören. Die schwäbische Hausfrau spart, wenn das Geld knapp ist. Das macht übrigens auch die griechische Hausfrau. Ist ja auch vernünftig: Wenn man weniger Geld zur Verfügung hat, sollte man weniger ausgeben.

Was aber weder die schwäbische noch die griechische Hausfrau beachten muss: Ein Staat ist kein Privathaushalt. In jeder Volkswirtschaft sind die Ausgaben des einen die Einkommen des anderen. Wenn alle griechischen Hausfrauen anfangen, weniger Geld auszugeben, geht es den griechischen Kaufleuten schlecht. Auch sie müssen sparen, müssen Mitarbeiter entlassen, und die Mitarbeiter schrauben ihre Ausgaben zurück, wodurch noch mehr Menschen arbeitslos werden. Wer aber keine Arbeit mehr hat, zahlt auch keine Steuern mehr. Dann hat der Staat zwar seine Ausgaben reduziert, aber es sinken auch seine Einnahmen. Und am Ende hat der Staat, trotz allen Sparens, mehr Schulden als vorher. Es ist ein Teufelskreis, eine ewige Abwärtsspirale.

In genau so einer Spirale scheint Griechenland festzustecken. Seit 2009 haben die verschiedenen Regierungen die Staatsausgaben um über 30 Prozent gesenkt, mehr als jedes andere Industrieland zuvor. Wäre Sparen ein Sport, wäre Griechenland jetzt Weltmeister. Nur gebracht hat es nichts. Vor Auszahlung des ersten Hilfspakets ab Mai 2010 lag die Arbeitslosenquote in Griechenland bei sieben Prozent. Heute beträgt sie 26 Prozent. Die Wirtschaft ist um rund 30 Prozent geschrumpft, die Schulden sind weiter gestiegen. Daran änderte auch das im Jahr 2011 verabschiedete zweite Hilfspaket nichts, genauso wenig wie der Schuldenschnitt des Jahres 2012, bei dem Griechenland ein Teil seiner Verbindlichkeiten erlassen wurde.

Irgendwann kam die Krise auch auf Amorgos an, nur ist sie hier leiser, weniger grell als in den Städten auf dem Festland. Auf Amorgos stehen keine Geschäfte leer. Man sieht hier keine alten Frauen, die auf der Straße schlafen, oder Familien, die im Winter ihre Möbel in den Kamin schieben. Meine Schweser lebt in Athen, und wenn ich sie besuche, schäme ich mich, weil im ganzen Haus mit seinen zwölf Parteien niemand die Wohnung heizen kann, wegen der neuen Steuer auf Öl.

Auf den ersten Blick hat sich auf Amorgos wenig verändert. Die weißen Häuser stehen noch immer am Fuße der Felsen, noch immer verstopft manchmal eine Herde Ziegen die Inselstraße, und heute wie damals ruft der Hirte den Tieren zu: „Kommt, Mädchen, kommt!“

Michalis Fostieris erkennt die Krise trotzdem. Er muss nur jeden Monat auf seinem Gehaltszettel schauen.

Wie allen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes wurde ihm sein Lohn um ein Viertel gekürzt, genau wie den Beamten der Küstenwache im Hafen von Amorgos, genau wie den Polizisten und Ärzten. Papier und Stifte, die er für die Arbeit braucht, bringt Fostieris jetzt von zu Hause mit. Die Regierung hat alte Steuern angehoben und neue Steuern eingeführt. Bald stehen die nächsten Erhöhungen an.

„Wie geht es dir, Michali?“, frage ich, und er zuckt mit den Schultern. „Ach“, sagt er, „wir leben, was sollen wir machen?“ Das ist die Frage, die sich hier alle stellen, auch Michalis’ Tochter Anna Fostieri. Sie wohnt eigentlich in Athen, aber nun ist sie hier. Nicht weil sie im Sommer Urlaub macht. Sondern weil sie im Sommer keine Arbeit hat.

Vor neun Jahren zog Anna Fostieri fort von Amorgos, fort aus der engen Welt ihrer Kindheit, um ein Leben als Erwachsene zu beginnen. Sie hat Französisch studiert und unterrichtet nun an einer der privaten Nachhilfeschulen, die fast alle griechischen Jugendlichen nachmittags besuchen, weil sie auf den staatlichen Schulen nicht genug lernen, um die Prüfungen zu bestehen. Anna Fostieri verdient vier Euro pro Stunde, das ist der neue Mindestlohn in Griechenland, und im Sommer ist sie elf Wochen lang arbeitslos, denn da sind die Schulen geschlossen. Sie hilft dann ihren Eltern in der Autovermietung.

Ich schreibe das nicht auf, um Mitleid zu wecken. Anna Fostieri wird sich schon irgendwie durchs Leben schlagen, so wie die meisten der Tausenden jungen Griechen, die trotz abgeschlossenen Studiums keine Arbeit finden. Vielleicht wird auch sie irgendwann ins Ausland gehen, zum Beispiel nach Deutschland, wie so viele Griechen in ihrem Alter. Sie fliehen aus einem Land, in dessen Krankenhäusern frisch Operierte auf den Gängen herumliegen, weil die Zimmer überfüllt sind. Einem Land, in dem inzwischen mehr als 30 Prozent der Menschen keine Krankenversicherung haben und die Kindersterblichkeit um 40 Prozent gestiegen ist. Die griechische Sektion von „Ärzte der Welt“ hat ihre Mediziner aus den armen Ländern Afrikas und Asiens abgezogen, weil sie jetzt zu Hause gebraucht werden.

Ich könnte diese Aufzählung fortführen, aber ich höre lieber auf. Ich möchte das Leid des griechischen Volkes nicht als Argument ins Feld führen, denn Europas Regierungschefs haben die Sparmaßnahmen ja nicht beschlossen, um die Griechen zu quälen. Das ist das, was jene Journalisten nicht verstanden haben, die in Merkel und Schäuble Wiedergänger der Nazis sehen.

Was ich allerdings nicht begreife: wie man tatsächlich glauben kann, man könne Griechenland mit mehr und immer noch mehr Kürzungen in die Lage versetzen, seine Schulden zurückzuzahlen.

Und mit welchen Worten man die Kürzungen kommentieren kann. Zwischen 2010 und 2014 haben die verschiedenen griechischen Regierungen 179 Reformgesetze erlassen, eine Studie der Irischen Zentralbank bescheinigte Griechenland eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Erneuerung, die deutschen Zeitungen aber schreiben Folgendes:

„Sie können nicht sparen – und wollen es auch gar nicht“ (Focus).
„Das Land hat sich als reformunfähig erwiesen“ (Frankfurter Allgemeine).
„So nicht, ihr Griechen“ (Die Welt).
„Ein seltsames Volk“ (Der Spiegel).

Ich weiß nicht, ob jemand gezählt hat, wie viele Talkshows es im deutschen Fernsehen schon zum Thema Griechenland gab, es müssen mehrere Dutzend gewesen sein. Manchmal war ich selbst dort zu Gast. Vor Kurzem zum Beispiel in der ARD bei hart aber fair. Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht wirklich geschafft, zu Wort zu kommen. Ich bin kein Fernsehprofi, und jedes Mal bin ich wieder überrascht, wie leicht manche Diskutanten sich Applaus abholen, indem sie mehr oder weniger wörtlich Schlagzeilen der Bild- Zeitung zitieren.

Wegen meines Namens bin ich in Deutschland immer „der Grieche“ gewesen. Als Griechenland im Jahr 2004 unter dem Trainer Otto Rehhagel Fußball-Europameister wurde, haben mir meine Freunde gratuliert. Heute bekomme ich E-Mails und Briefe von unbekannten Griechenhassern, die mir nahelegen, anatomisch unmögliche sexuelle Praktiken an mir selbst auszuführen.

In all den Talkshows habe ich kaum einen Moderator, kaum einen Experten getroffen, der das erste Memorandum vom Mai 2010 gelesen hatte, das die Sparauflagen für Griechenland auflistet und auf der Website der Europäischen Union leicht zu finden ist. In diesem Dokument steht zum Beispiel, dass es kontraproduktiv, ungerecht und sinnlos wäre, die Löhne im griechischen Privatsektor zu senken. Ein Jahr später setzte die Troika trotzdem die Senkung des Mindestlohns durch. Leider fand sich fast keine Zeitung, die darauf hinwies, dass die Gläubiger gegen ihre eigene Expertise handelten.

Stattdessen ist in den Zeitungen in diesen Wochen viel von Spanien, Portugal und Irland zu lesen, jenen drei Euro-Ländern, die ebenfalls Hilfskredite bekamen und deshalb ebenfalls zum Kürzen und Sparen verpflichtet wurden. Die jüngsten Wirtschaftsdaten dieser Länder, so das Argument, erzählten große Erfolgsgeschichten und seien der Beweis dafür, dass die Programme der Troika wirkten.

Abgesehen davon, dass das Wort „Erfolg“ bei Arbeitslosenquoten von 13 Prozent (Portugal) und 23 Prozent (Spanien) auf mich ein wenig zynisch wirkt, ist der Vergleich mit Griechenland schlicht falsch. Die Spanier, Portugiesen und Iren mussten ihre Ausgaben weit weniger kürzen als die Griechen. In Spanien etwa sind die Beamtengehälter gegenüber dem Jahr 2007 nicht gesunken, sondern gestiegen, auch die Sozialausgaben haben sich leicht erhöht. Wenn das Beispiel Spanien etwas beweist, dann nur, dass behutsames Sparen einem Land mitunter mehr hilft als Radikalkürzungen.

Wirtschaftswissenschaftler vergleichen sich gerne mit Medizinern, die eine bestimmte Therapie, ein Medikament empfehlen oder davon abraten, nur dass sie keine Menschen kurieren, sondern Länder. Wenn man dieses Bild für einen Moment beibehalten will, muss man sagen, dass sich inzwischen immer mehr der besten und bekanntesten Ärzte der Welt öffentlich mit einer eindeutigen Diagnose zu Wort melden: Die Fortsetzung der Sparpolitik wird das kranke Griechenland nicht gesunden lassen.

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sagt, die Gläubiger hätten die Auswirkungen der Sparpolitik völlig falsch eingeschätzt.
Der Nobelpreisträger Amartya Sen sagt, eine schrumpfende Wirtschaft sei das denkbar ungünstigste Umfeld für echte institutionelle Reformen.
Der Nobelpreisträger Paul Krugman sagt, die Troika sei dabei, die griechische Wirtschaft zu zerstören.
Der Nobelpreisträger Robert Shiller sagt, die Kürzungsprogramme hätten ganz Europa geschadet.
Der Nobelpreisträger Christopher Pissarides sagt, man dürfe pure Sparpolitik nicht mit echten Reformen verwechseln.

Es gibt auch andere Wissenschaftler, natürlich, andere Ärzte, wenn man so will, die der Meinung sind, wenn die griechische Regierung nur weiter ihre Ausgaben kürze und die Steuern erhöhe, wenn sie ihrem Land nur immer mehr von derselben Medizin verabreiche, werde Griechenland bald wieder auf die Beine kommen. Viele dieser Wissenschaftler sind Deutsche. Ich will ihnen nicht die Fachkenntnis absprechen. Aber in die Nähe des Nobelpreises ist noch keiner von ihnen gekommen.

Ich sage es noch einmal: Die griechische Verwaltung ist ineffizient. Das Steuersystem ist unproduktiv. Das Rentensystem ist chaotisch. Das Gesundheitssystem ist erbärmlich. Das alles war schon vor der Krise so. Ich verstehe nur nicht, wie man auf die Idee kommen kann, eine Regierung, die kein Geld mehr ausgeben darf, werde es schaffen, dies alles zu ändern.

An meinem dritten Tag auf Amorgos zerrt der Meltemi, der sommerliche Nordwind, an den Bäumen und Büschen im Hof der Schule. Vor der Tür stehen Männer und Frauen, Alte und Junge in einer langen Schlange. Sie sind gekommen, um ihre Stimme abzugeben, die Schule ist das Wahllokal. Es ist der Tag des Referendums, der Tag, an dem die Griechen über die Forderung der Gläubiger nach einer Fortsetzung der Sparpolitik abstimmen, mit Ja oder Nein.

Sechs Tage zuvor stand der ZDF-Reporter Alexander von Sobeck vor dem Parlament in Athen und berichtete live in der heute-Sendung davon, was sich hinter ihm auf dem Syntagma-Platz abspielte. „Das ist die größte Demonstration seit Tagen“, sagte er. Und alles seien Menschen, die im Euro bleiben wollten, also Gegner der Syriza-Regierung.

In Wahrheit waren es Anhänger der Regierung und Gegner des Sparkurses. Von Sobeck hatte es geschafft, das irgendwie zu übersehen.

Vor wenigen Wochen ist in der ZEIT ein Essay über die Glaubwürdigkeit von Journalisten erschienen ( ZEIT Nr. 26/2015). Der Autor schrieb, in der Finanzkrise und bei dem Absturz der Germanwings-Maschine hätten die deutschen Journalisten versagt. Ich glaube langsam, bei der Berichterstattung über Griechenland stehen sie auch nicht sonderlich gut da.

Auch auf Amorgos haben sich vor dem Referendum Menschen versammelt. Aber es waren nur Kinder, die da zusammenliefen, angelockt von dem dröhnenden Fapp-Fapp-Fapp des landenden Militärhubschraubers, der die Stimmzettel auf die Insel brachte, so wie vor 13 Jahren ein Fährschiff das neue Geld geliefert hatte.

Ganz spät, als die Sonne schon tief über der Insel liegt, geht auch der Mann zum Referendum, der den Bewohnern von Amorgos damals den Euro brachte. Seine Tochter Anna hat schon gewählt. Sie hat Ochi angekreuzt, Nein.

Michalis Fostieris stimmt mit Ja, spricht sich also für die Sparmaßnahmen aus. Er sagt, niemand wisse, was passiere, wenn das Nein gewinnt.

Inzwischen wissen wir es. Am vergangenen Wochenende haben die Gläubiger der griechischen Regierung wieder einmal neue Spar- und Reformmaßnahmen vorgelegt. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Griechenland mit den Gläubigern über weitere Hilfskredite überhaupt nur verhandeln darf. Zwei Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr und ein rascher Aufstieg Griechenlands von der unproduktivsten zur produktivsten Volkswirtschaft der Euro-Zone, so lautet das alte, neue Versprechen, wenn die Griechen die weiteren Kürzungen umsetzen.

Manchmal frage ich mich, wie lange es noch dauert, bis das Land an dieser Politik zerbricht.

Vor 18 Jahren hat mein Vater, der Grieche, das deutsche Bundesverdienstkreuz bekommen, für seine Verdienste um die deutsch-griechischen Beziehungen. Ich bin das Produkt einer unvorstellbaren Versöhnungsleistung, von den größten Verbrechen hin zur tiefsten Verbundenheit. So wie das gesamte heutige Europa. Bis jetzt.